ANDREW LILES: Where The Long Shadows Fall

„And formless we lay and shall dream“

Eine Taxonomie von Coverversionen zu entwerfen ist schwierig, aber vielleicht könnte man folgenden Vorschlag machen: Da gibt es die gefühlt größte Gruppe der Reproduktoren, die meistens bar eigener Fähigkeiten und Originalität versuchen ein Stück Ton für Ton nachzuspielen, auf dass ein Teil des Glanzes des Originals auf das eigene Schattendasein falle. Meistens fällt aber nur der Erzeuger – und zwar aus sehr niedriger Höhe. Dann gibt es die Assimilatoren, die sich fremde Stücke einverleiben, um sie verdaut und transformiert zum Teil des eigenen Oeuvres machen. Geschieht das über Gattungs- und Genregrenzen hinweg, werden aus den Assimilatoren Destruktoren, die aber getreu dem Motto, dass aus der Asche (manchmal) ein Phönix emporsteigen wird, (im gelungenen Falle) dem Original neues Leben einhauchen.

Dass obige Kategorisierung unvollständig ist, beweist Andrew Liles, der auf dieser Ein-Track-Veröffentlichung David Tibet und Current 93 anlässlich der Jubiläumskonzerte seine Ehre erweist. Denn weder versucht er sich an einer simplen Reproduktion des Originals, noch fügt er das Stück seinem eigenen auf positive Weise heterogenen Werk hinzu oder zerstört das, was am Original stimmte und stimmig war –  vielmehr erzeugt er einen zehnminütigen Track, der mit ähnlichen, aber eigenständigen und originell eingesetzten Mitteln der Stimmung des Original auf fast schon unheimliche Weise nahe kommt. War „Where The Long Shadows Fall“ –  der erste Teil der „Inmost Light“-Trilogie –  eine von einem Loop des wohl letzten Kastraten Alessandro Moreschi durchzogene zutiefst melancholische Klangfläche, zu der Tibet Zeilen wie „Around me: I see things coming to a close/The door is nearly shut“ rezitierte und das Stück mit dem von Jhonn Balance stammenden und gesprochenen Satz „Why can’t we all just walk away?“ ausklang (der „All The Pretty Little Horses“ dann einleiten sollte), verwendet Liles zwar ebenso einen von Klavier unterlegten Loop von Moreschi, der aber wahrscheinlich einer anderen Aufnahme entnommen worden ist. Dazu flüstern Daniela Cascella und Melon Liles den Text auf Deutsch und Italienisch. Man hört im Hintergrund seltsame Geräusche, wie vielleicht das Knarzen von Türen, dann wieder vernimmt man vereinzelte Töne, die schemenhafte und schwer atmende Gestalten verstimmten Klavieren zu entlocken scheinen. Zu dieser Vorgehensweise (und der geisterhaften Atmosphäre) passt, dass das (ver)blasse(nde) Cover ebenso wie das Original von einem (aber nicht dem gleichen oder zumindest nicht den gleichen Auschnitt zeigenden) Gemälde Louis Wains geziert wird. Bezogen auf oben versuchtes Klassifikationsschema ließe sich damit also konstatieren, dass Liles das seltene Exemplar des Somnambulators, des (Wieder-)Träumers ist.

(M.G.)