Vieles, was wir als Fortschritt bezeichnen, ist einseitig. Interview mit Dave Phillips

Dave Phillips ist seit den 80ern aus der lärmenden Musikwelt nicht wegzudenken, legte mit seiner Band Fear of God einen Grundstein für Noise- und Grindcore und wurde später solo zum berüchtigten post-industriellen Soundaktivisten – ein Begriff, den Phillips nur unter Vorbehalt akzeptiert, so wie ihm die begriffliche, rationale Sprache ohnehin einseitig und als ein Quell ideologischer Verstrickungen erscheint. Viel mehr vertraut er – im Leben, im Studio und auf der Bühne – auf den Klang als Träger von Emotionen und Inhalten. Viel zu sagen gibt es über den weitgereisten Multimediakünstler aus Zürich dennoch, und eines seiner zentralen Themen, auch im folgenden Interview, ist die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen Vernunft und Intuition und zwischen Kultur und Natur, womit bei ihm allerdings kein naives “back to nature” gemeint ist.

Obwohl du seit jeher auch mit Bildern, Texten und Performance arbeitest, scheint das Medium Sound bzw. Musik bei dir immer eine besondere Rolle zu spielen und ist der einzige Bestandteil, der eigentlich nie fehlt. Wann und wie ist dir klar geworden, dass du dich in diesem Medium ausdrücken willst und was macht seine Besonderheit aus?

mit dem „klar werden“, das ist so ne sache. in meiner künstlerischen tätigkeit mach ich seit jeher sachen, die mir irgendwie „klar“ sind – die ich aber erst viel später auch bewusst benennen bzw. ausformulieren kann, deren zusammenhänge, bedeutungen und implikationen erst nach geraumer zeit zu einem bewussten „klar werden“ werden.

item, klang hatte auf mich schon immer grosse wirkung und somit einen hohen stellenwert. er kommuniziert, er transportiert viel, vieles was mich berührt. aber das umfasst ja immer auch mehr als „nur“ den klang.

Daraus kann man schließen, dass du eher intuitiv arbeitest, und dass bewusste Re-flexion ein im wahrsten Wortsinne nachträglicher Akt ist, der sich eventuell einstellt?

mit betonung auf „eher“ – das arbeiten scheint tatsächlich eher intuitiv zu sein, aber das heisst nicht, dass reflektion nur ein nachträglicher akt ist – beim arbeiten ist der versuch einer bewussten reflektion immer sehr präsent, nur ergibt das resultat der kombination reflektion/intuition im nachhinein oft ein etwas anderes gesamtbild als das was beabsichtigt war – ohne dass dabei das beabsichtigte verloren geht. es passieren da also sachen deren tatsächliche wirkung erst mit genügend rückblick „klar“ oder „bewusst“ werden.

Du hast in vergangenen Projekten Bass und auch Schlagzeug gespielt, allerdings scheinst du eher ein Improvisierer zu sein als ein mit einem bestimmten Instrument verbundener Musiker. Hast du eine musikalische Ausbildung erhalten, oder bist du reiner Autodidakt?

als improvisierer würde ich mich nicht bezeichnen, eher als ausprobierer. ne musikalische ausbildung im klassischen sinn hatt ich nie, aber ich bin grosser fan und sammler von musik und empfinde das auch als ausbildung.

Du warst früher in der HC/Punk-Szene unterwegs. Auch wenn deine Noisecore-Band Fear of God schon immer etwas Abstraktes hatte – betrachtest du den Beginn deiner Soloarbeiten als einen starken Umbruch? Welche Dinge haben sich verändert?

meine solo sachen sind ne klare kontinuität meiner empfindungen, die in fear of god platz fanden, auch wenn diese kontinuität natürlich weiterentwicklungen und öffnungen beinhaltet. da das alles aber einen für mich „natürlichen“ lauf nahm, ist es bestimmt kein „umbruch“ – das einzige was sich im grossen verändert hatte ist das ich nach der band alleinig verantwortlich war – was ich auch wollte.

handkehrum ist die veränderung kontinuierlich, die geht auch jetzt noch weiter.

abstrakt ist relativ und ein nicht wirklich präsenter massstab in meinem diesbezüglichen denken, für mich sind eher sachen wie energie-levels oder inhalte, intentionen oder stimmungen massgebend, und da ist ne kontinuität für mich offensichtlich.

Ging es dir damals darum, eigene Ideen und Konzepte kompromissloser umsetzen zu können? Deine Arbeiten haben ja immer etwas Aktionistisches, und es ist offenkundig, dass du damit etwas Persönliches ausdrücken willst…

das persönliche ist unbedingt teil meines ausdruckes, ich kann nicht anders. und ja, ich wollte mein empfinden auf radikalere, konkretere und persönlichere art kommunizieren, aber auch verfeinern – aber ich wollte auch ne ganze stimme sein, nicht nur ein viertel.

Fällt das bei Kollaborationen leichter, weil man da nicht so fest “zusammengehört”, und oft nur punktuell oder über größere geografische Distanzen kooperiert? Es gibt ja einige gelungene Zusammenarbeiten wie jüngst die mit Hiroshi Hasegawa, bei der man definitiv die Handschriften beider Künstler erkennen kann…

ja unbedingt, weil kollaborationen in einem zeitlich oder räumlich bedingten rahmen passieren, oft meist nur auf ein bestimmtes projekt (live oder studio) bezogen, da taucht dieses gefühl eine „halbe oder viertel“ stimme zu sein eher nicht auf, im gegenteil, da ist es eigentlich hochinteressant, diese individuellen stimmen aufeinander prallen zu lassen um daraus etwas neues zu generieren, wenn’s gut gelingt eine neue „geeinigte “ stimme zu formen und nicht nur die verbindung zweier schon bestehenden stimmen.

Der Begriff „Soundart“ wird sehr häufig verwendet und hat über die Jahre einen Beiklang von Kunstschickeria bekommen. Würdest du dich eher als Soundaktivist bezeichnen?

klingt besser, schon, aber das sind ja alles nur worte bzw. labels, die sind ja eh immer nur bedingt aussagekräftig. sound art und sound activism schliesst sich ja auch nicht aus, und beide ausdrucke sind aussagekräftig genug. was man darunter verstehen will (oder ob man’s sich von der hipsteria verderben lassen will) ist ja auch ne frage des individuums und des kontextes.

Findest du, dass Sound in unserer Gesellschaft unterbewertet ist oder zu sehr für oberflächliche Zwecke instrumentalisiert wird?

unterbewertet vielleicht nicht, aber vielleicht in ihrer tiefe nicht ganz verstanden, bzw. ja, „instrumentalisiert“ oder als dekoration benutzt. was ja auch seinen berechtigung hat, durchaus, aber die balance zwischen klang als träger von emotionen und inhalten die weiter gehen als nur als ausgleich zum arbeitsalltag und dem dekorativen/funktionalen unterliegt halt, wie vieles andere, dem diktat des marktes und wie man daraus profit schlagen kann. darum ist einfache musik (die keiner oder wenig reflektion bedarf) auch so weit verbreitet. einen vier/viertel kann man ja grad noch nachvollziehen und das reicht ja oft auch, um den arbeitsfrust am wochenende loszuwerden.

Gibt es bei dir eine Vorstellung darüber, was für Qualitäten oder Eigenschaften Sound haben muss (oder anders herum nicht haben sollte), um mehr zu sein als Deko und Zerstreuung? Oder läuft auch dies rein intuitiv bei dir ab?

eine vorstellung hab ich sicherlich, aber das ist derart subjektiv, da hätt ich grosse müh das auszuformulieren (vor allem, wo welche art von grenzen zu ziehen wären), sogar der versuch einer beschreibung gewisser eigenschaften scheint mir unmöglich bzw. nichtssagend… das ist wohl eher was intuives, und aber es ist vor allem was persönliches.

Ein weiteres wichtiges Medium bei dir, das natürlich genau genommen zum Bereich des Sound gehört, ist die Stimme. Wenn du deine Stimme einsetzt, dann geschieht das meist in Form von aggressiven Schreien, die nach Wut und Verzweiflung klingen. In welchem Maß fließen solche Empfindungen in deine Arbeiten ein?

von wegen klar werden. wieso setzte ich die stimme so ein? ich hab mir das nie wirklich „bewusst“ überlegt, der gebrauch der stimme war für mich ganz einfach auch pragmatisch – ich arbeite mit dem, was ich habe. im versuch das nun zu erklären geht mir folgendes durch den kopf: schreien tut gut, drückt auch vieles aus, singen kann ich nicht. mit der stimme mach ich aber auch anderes, das meiste ist eigentlich nicht schreien: atmen, flüstern, mundgeräusche, halsgeräusche, würgen, ringen um luft… wut und verzweiflung sind sicher gefühle die in meine musik einfliessen, aber schreien hat für mich viele verschiedene bedeutungen, es ist vor allem befreiend, ist voller energie… die man dann so oder so deuten kann…

Wut und Aggression sind keine rein negativen Empfindungen, und ich finde, dass man das in deinen Arbeiten besonders gut merkt. Wie siehst du das?

nein, negativ ist das bestimmt nicht. zum thema „aggressiv“, eine erinnerung aus meiner frühen teenager-zeit: als ich oft mit walkman & kopfhörer zur schule ging, kläffenden hardcore oder brüllenden metal hörend, fragte mich ein kid mal: „wieso hörst du so aggressive musik?“ ich fiel aus allen wolken. aggressiv? diese musik gab mir energie, war wie kalt duschen, absolut lebensbejahend und stärkend in ihrer wirkung…

In einer Beschreibung wurden deine Arbeiten einmal als “somehwere between noise, musique concrete, confrontational theater and alluring absurdity” bezeichnet – machst du dir Gedanken darüber, wie jemand deine Arbeiten bezeichnet?

nein, und ich bin immer wieder überrascht – auch erfreut – auf welche arten das wahrgenommen, interepretiert und beschrieben wird.

Spielen begriffliche Definitionen für dich überhaupt eine Rolle? In einigen deiner Liner notes bezeichnest du die begriffliche Sprache ja als eines der größten Hindernisse in der menschlichen Kulturentwicklung…

nun, der grund wieso mir klang so zusagt ist dass er halt ne viel gewichtigere, umfangreichere sprache ist als das gesprochene, verbale wort. versteh mich nicht falsch, diese art von sprache, unsere gesprochene sprache, ist eine grosse errungenschaft, aber im vergleich zu dem was ich kommunizieren will ist sie oft unzureichend, bzw. beinhaltet sie zu viele mögliche fehlerquellen – das erfahre ich auch im alltäglichen, „nicht-musikalischen“ gebrauch von sprache. das hindernis kommt aber erst wenn man das, was diese sprachen impliziert, nämlich das rationale, vernünftige und logische, als das alles bezeichnende relevante der sprache versteht und kommunikation nur formsache ist.

Denkst du, es gibt gute Versuche, beide Ausdrucksweisen miteinander zu versöhnen? Wie könnte so etwas deiner Meinung nach vonstatten gehen?

ich denke die ausdrucksweisen ergänzen sich, ergeben zusammen ein ganzes. da muss es gute versuche geben, wo das sich ergänzende derart nuanciert harmoniert dass das ganze vielleicht sogar als möglichst komplett bezeichnet werden könnte… aber das ist wohl eher rar. dies gesagt, fühl ich mich öfters „komplett“ berührt von werken die entweder „nur“ musikalisch oder „nur“ literarisch“ sind.

Ich finde es interessant, dass du auf der einen Seite sehr hart mit den Schattenseiten dessen, was wir als Fortschritt bezeichnen (Ausbeutung der Natur, Machtpolitik unter hochtechnisierten Möglichkeiten) ins Gericht gehst, auf der anderen Seite aber dennoch sehr progressiv von einer Art neuem Menschen sprichst, der wieder näher an der Natur ist. Findest du, dass es für die modernen Gesellschaften einfach den „falschen Fortschritt“ gegeben hat?

vieles was als „fortschritt“ bezeichnet wird ist, wie ich es empfinde, zu einseitig (bzw. zu einseitig geworden). ob wir nun, zum beispiel durch die „säuberungen“ die die monotheistische kulturen vorangetrieben haben, viel relevantes wissen vernichtet haben, oder ob die entwicklung unseres hirns zu sehr von der logik dominiert wird – in diesen kontexten sind vielleicht „fehler“ gemacht worden, aber die sind ja auch teile von lernprozessen, also nicht per se falsch. nun aber sind wir im hier und jetzt, und da stellt sich mir die frage „wie weiter?“.

Gibt es denn Veränderungen, die du dir für den Fortgang der Geschichte erhoffst, und wie hoffnungsvoll bist du dabei wirklich?

die hoffnung schwankt immer. der mensch als spezies ist ja noch jung aber es wird zeit dass wir aus den kinderschuhen herauswachsen – religionen, materialismus, machtgehabe, dominanz und dieser blinde glauben an die technik und die logik,. das kennen wir nun, wir sollten uns weiterbewegen… eine bewusstseinserweiterung ist gefragt, eine bewusstwerdeung, ein versuch die sprache der erde zu verstehen, sich eine intelligenz anzueignen die eben nicht von rationalität und logik dominiert wird, ein weniger mechanistischer oder systemischer bezug zum körper, zur erde, zum leben…. somit eine besinnung auf das leben und auf was es denn wirklich lebenswert macht, und nicht nur für sich selber… eine verbundenere wertschätzung des lebens, und zwar allen lebens – und da versteh ich den planeten erde auch als lebewesen, …  ein umgang mit der natur und miteinander der nicht vom materiellen wertesystemen diktiert wird wär gut – der respektvoller, sorgfältiger und ausgeglichener ist, der nicht nur aus nehmen besteht sondern auch aus sorge tragen, der halt nicht von dominanz und überlegenheit ausgeht sondern den menschen als teil eines ganzen wahrnimmt…was auch längerfristiges denken und empfinden mit sich bringen könnte… die welt als ganzes wahrnehmen und all die komplexen vernetzungen und zusammenhänge “verstehen” (auch wenn sie nicht alle “klar” erkannt oder benannt werden können). weniger verschwendung, gier, geiz und egoismus, die entwicklung eines kollektiveren umgangstons… entgegen der masslosen und respektlosen plünderung des planeten und des lebens im interesse von profit. eine balance suchen zur kalten, kalkulierten art wie wir sachen rechtfertigen, einteilen oder berechnen…. diese dominante, anthropozentrische (bzw. weisse, männliche) vorherrschaft… soll vorbei sein.
da sind wir sehr bald mal bei der markwirtschaft, dem deregulierten neoliberalismus und… nun, wenn eine veränderung stattfinden soll dann hat vieles auch mit der globalen wirtschaft zu tun – da stellt sich die frage wieso wir handel betreiben und wem das dienen soll. unterm strich – wenn wirklich etwas verändert werden will, muss die marktwirtschaft und deren struktur grundlegend erneuert bzw. neu ausgerichtet werden.
unser energie-intensiver lebensstil ist da nur ein teil davon, aber er kann so auch nicht weitergehen.
das politische system sollte auch aufgeräumt werden, weil es derart unheilvoll mit der wirtschaft vernetzt, sprich korrupt ist. politische repräsentanten sollen tatsächlich repräsentieren und tatsächlich unabhängig sein – und nicht von der wirtschaft gesponsort oder gar instrumentalisiert – ein strikte trennung von staat und wirtschaft und striktere regulationen vor allem was die umweltbelastung angeht. verschmutzer müssen zur rechenschaft gezogen werden… und wenn die population zu 50% aus frauen besteht, dann soll die politik das auch, ungefähr….. das wären mal anfänge….
der kreative prozess als gegenpol zum konsumwahn unserer zeit soll erwähnt sein… was weitergedacht unsere wertvorstellungen von arbeit per se hinterfragen darf…
ich glaub wir müssen wieder entdecken, was es heisst, das leben wahrzunehmen so dass es alle unsere sinne nährt – sinne die wir wohl etwas verschrumpeln liessen. dann würde schnell klar dass dieser ganze technologische und materielle schnickschnack unwichtiger ist als wir meinen. und dass das was leben lebenswert für alle macht, mit kooperativer, sozialer und umwelt-bewusster denkens- und handelns-weise tiefgründiger und bereichernder wird. nicht nur ein nehmen, sondern auch ein wahrnehmen, ein teilnehmen und ein geben darstellt. ich mein jetzt nicht der technologie den rücken kehren oder so, eher ein gleichgewicht herzustellen zwischen den sachen, von denen einige heute zu viel gewicht haben… materialistische oder technologisierte aspekte unseres daseins sind ziemlich aus dem gleichgewicht geraten, damit zusammenhängend auch der glauben an die versprechungen, die diese aspekte mit sich bringen… oder dieser „geiz“ der es uns nicht erlaubt, unseren reichtum zu teilen… wir haben diesen einen planeten, wir wohnen alle darauf, und wir könnten zusammen daran interessiert sein, es für alle bewohner lebenswert zu machen – jedes lebewesen soll die möglichkeit haben, zu entscheiden, dass es lebt, wie es lebt und wo….

Gibt es bei all dem so etwas wie einen didaktischen Anspruch, oder ginge dir das zu weit?

nun ja, ich versuche möglichst un-didaktisch zu sein und eher “food for thought” zu offerieren als zu “belehren”, handkehrum ist das natürlich schwierig zu balancieren. lass es mich so sagen: als „künstler“ (welch unwort), also als teil einer gesellschaft, nehme ich meine aufgabe so wahr, als jemand der fragen stellt, visionen vermittelt, grenzen überschreiten muss, das empfinden & denken vorantreiben will, ein gleichgewicht sucht zwischen der „kutlurellen“ und der „arbeitenden“ welt, oder der „materiellen“ und der „sinnlichen“ welt, zwischen mensch und natur, und so probiert anstösse zu geben, zur reflektion animieren will…

In den liner notes zu “Homo Animalis” zählst du viele literarische Inspirationsquellen auf. Wie erreicht dich Literatur, schnappst du die Sachen, die sich interessieren, eher auf, oder gibt es ein bestimmtes Thema oder eine Richtung, die du regelmäßig verfolgst?

ja es gibt sachen, die ich mit grösserem interesse verfolge, die haben, einfach gesagt, mit der umwelt, mit menschen- und mit tier-rechten zu tun, die politik ist somit auch ein grosses thema, da aber alles miteinander verbunden ist, sind verschiedenste themen und literarische formen interessant. ich lese gerne, von tages- zu monats-zeitungen zu blogs, fiktion und fanzines. vieles erreicht mich durch empfehlungen aus dem freundeskreis aber auch aus eigenen recherchen. unterm strich ist literarisches glaub ich mittlerweilen ein grösserer einfluss auf mein wirken als musik.

Du erzähltest mal, dass du die Arbeiten von Jean Ziegler und v.a Naomi Klein schätzt. Viele Verteidiger des Bestehenden setzen sich ungern mit den Thesen solcher Leute auseinander und tun ihre provokanten Thesen gerne als naiv ab. Was würdest du solchen Abwehrungen entgegensetzen, und sind dir schon ähnliche Vorwürfe gemacht worden?

ich weiss nicht wie sehr hier von „vorwurf“ gesprochen werden kann, es sind eher verschiedene realitätsauffassungen die in solchen momenten aufeinanderprallen. das eigentlich „provokante“ an diesen thesen (wie sie etwa ziegler oder klein vertreten) hat ja nicht eigentlich mit den inhalten zu tun sondern damit, dass eine ernsthafte auseinandersetzung, nee, nicht mal das, nur schon die möglichkeit dass diese realität etwas wahres beinhalten könnte, für viele menschen eine gefahr oder bedrohung darstellt, weil dadurch ihre eigenen realitätswahrnehmungen, ihre wertesysteme bzw. ihr ganzes weltbild in frage gestellt wird… wie der satz “it is difficult to get a person to understand something when his salary depends upon his not understanding it” impliziert.

Du hast dich wiederholt auf Religion bezogen, meist in kritischer oder ablehnender Form. Deine frühere Band hies bekanntlich Fear of God, und es gibt u.a. eine Performance mit dem Titel „Abolishing Religion“. Auf „Homo Animalis“ hast du primär die organisierten Glaubenssysteme kritisiert. Gibt es neben all dem auch Formen des Religiösen oder Spirituellen, denen du positiver gegenüber stehst?

die religion, die ich verurteile ist primär die organisierte oder indoktrinierte religion. diese art von religion ist einer dieser „fehler“ der menschheit, die ich zwar als „relevant“ im sinne eines lernprozesses verstehen kann, die aber eigentlich längst verdaut gehört. zeitgenössische versionen dieser religiösität leben aber weiter, mit „blindem“ glauben an technologie, wissenschaft oder an das materielle. religion ist privat-sache im besten fall und als vermittler einer art „moral“ ist sie manchen vielleicht eine nützliche krücke, meinetwegen. eine totale abkehr von religion stellt für mich keineswegs ein „desensibilisieren“ oder ein entfernen aller „sinngebung“ oder „moral“ dar. im zeitalter der „logischen“ religionen (wie eben technologie, wissenschaft, material) ist ein auflösen der moral, eine entfremdung von allem nicht-logischen, keine gute idee. ob man das nun als „spiritualität“ bezeichnet, nun, das wort sagt mir nicht wirklich zu, auch find ich das konzept einer „seele“ etwas seltsam und weithergeholt. ich komme da eher auf begriffe wie „empathie“, „soziale und ökologische verantwortung“ oder „sinnliche wahrnehmung“, aber das sind ja nur begriffe, unterm strich ist es sicherlich so, dass wenn man alles auf rationales oder materielles reduziert, das der vielfalt des lebens nicht gerecht wird.

Angesichts der Tatsache, dass seit der Aufklärung und Säkularisierung die Entfremdung des Menschen und der Missbrauch der Natur zugenommen haben und bspw. im Konsumkult so etwas wie Pseudoreligionen entstanden sind, haben sich zahlreiche kritische Geister (Pasolini etc.) wieder positiv auf religiöse, vormoderne Traditionen berufen. Kannst du solche Haltungen nachvollziehen?

ja, teils. vor den „säuberungen“ zum beispiel, die das christentum über den okzident brachten, gab es ja heidnische kulturen, deren traditionen man durchaus in einem positiveren licht, als mehr im gleichgewicht mit der natur, sehen kann, das kann man ja auch von noch lebenden indigenen kulturen lernen. wie gesagt, die organisierte religion ist ein übel, was aber nicht unbedingt mit den inhalten zu tun hat, die teils (ursprünglich) vielleicht damit vermittelt werden wollten. aussagen wie „du sollst nicht töten“ oder „tu keinem leben an was du nicht willst das man dir antut“ find ich in sich sinnig (wenn auch zu einfach). die form des „rituals“ scheint mir auch eine legitimer „religiöser“ brauch zu sein auch wenn hier eindeutig persönliche formen hervorzuheben sind. und eine besinnung auf gewisse wahrnehmungen die gewisse vormoderne traditionen in sich trugen sollten auf keinen fall übersehen werden…

Du arbeitest viel mit bewegten Bildern, zum einen, um sie bei Auftritten einzusetzen, zum anderen kursieren aber auch viele professionelle Mitschnitte deiner Shows, z.B. „Abolishing Religion“ in Tel Aviv oder die Performance mit Rudolf Eb.er in Paris. Auch wenn letztere auch etwas sehr Witziges hat, zeigen sie am besten die rituelle Seite deines Werks. Betrachtest deinen Ansatz als schamanistisch, wie gerne gesagt wird?

ja auch, obwohl ich das wort eher vorsichtig in den munde nehme. als ich anfing, über den schamanismus zu recherchieren, fielen mir viele parellelen zu meinen arbeiten auf (…von wegen klar werden). an ein spezielles „aha“ mag ich mich erinnern… ich hatte mich (früher) ab und zu gefragt, wieso denn meine musik oft so „düster“ oder „dunkel“ daherkommt. als ich mich das erste mal mit schamanistischen ritualen befasste, und von den „benennungen“ lernte, die schamanen, am anfang eines heilrituals benutzten, um sie dann „auzutreiben“ wurde mir einiges klarer… auch erkenne ich parallelen betreffend der vermittlerrolle zwischen den welten, zwischen nicht-menschlichen und dem menschlichen tieren… oder der gebrauch von ‘tierischen masken’ und geräuschen… und so weiter…

Bei vielen deiner Auftritte läuft im Hintergrund eine Filmkollage, auf der z.T. sehr heftige Bilder von industriellem Tiermissbrauch zu sehen sind. Während man Bilder von Kriegen zumindest in unseren Breiten schnell als etwas abtun kann, das jenseits vom Hier und Jetzt liegt, hat die Ausbeutung von Tieren viel mehr mit dem eigenen Alltag zu tun, auch wenn man selbst wenig oder keine Tierprodukte konsumiert. Krieg gibt es auch im Popkornkino, Zuchtbetriebe und Schlachthäuser eher nicht. Deshalb wirken solche Aufnahmen auch auf viele wesentlich konfrontativer und unbehaglicher. Siehst du dich als Spaßverderber und findest du, dass es mehr davon geben müsste?

zum teil hat das mit einer weiter oben schon gestellten frage zu tun – „wird sound in unserer gesellschaft unterbewertet?“ für mich hat musik mit inhalten zu tun, dieser anspruch gilt vor allem dann, wenn ich sie selber mache. ich sehe mich denn auch einfach als „ehrlich“ und nicht als spielverderber, obwohl ich weiss, dass leute nicht wirklich diese art von „konfrontation“ erwarten. ehrlich gesagt gefällt mir das „unbequeme“ auch, auch wenn ich es im sinne einer kommunikation wahrnehme – positiv berührte reaktionen gibt es viele, so dass ich auch weiss dass es nur für wenige „spielverderberei“ ist.

ob es „mehr davon geben müsste“? hm… ich schätze es sehr wenn jemand, via musik, „stellung nimmt“ und was vermitteln will. genug gibt es davon wohl nicht. aber das hat auch mit der vielfalt der arten zu tun wie das vermittelt wird… daher könnte es schon „mehr“ ertragen….

Vielleicht gibt es mehr positive Reaktionen wegen der Kontexte, in denen du meist auftrittst. Das berührt ja ein generelles Dilemma heutiger Sub- oder Gegenkulturen oder welche Begriffe man sonst noch verwenden will – die Kunst mag provokant sein, aber gerade im kleineren Rahmen tritt man oft vor Fans auf, die das Provokante eben bejahen und somit gar nicht provokant finden. Nicht, dass man diese Leute nicht ebenfalls inspirieren und weiterbringen könnte (ich selbst mache die Erfahrung ja immer wieder), aber hast du mal vor einem Publikum gespielt, das sehr weit von dem, was du machst, entfernt war und völlig befremdet auf deine Sachen reagierte?

um etwas auszuholen. einen „vorwurf“ den ich ab und zu höre ist dass meine arbeiten ein „preaching to the converted“ seien. dieses argument kann ich eigentlich nicht so gelten lassen, weil, die frage stellt sich, wer ist den überhaupt empfänglich für so was? wenn ich vor einem publikum von, sagen wir mal etwas stereotypisierend, ökonomen oder technokraten auftrete, werden meine ansichten wohl eher grundlegend als „unrealistisch“ oder „verträumt“ abgetan, ohne dass auf einzelne aspekte näher eingegangen werden kann – halt wenn sehr verschiedene auffassungen von realität (wie oben schon erwähnt) aufeinander prallen. vor einem pulbikum das, sagen wir mal, für gewisse themen (z.B. menschenrechte, frauenrechte, tierrechte, umweltschutz o.ä.) schon etwas sensibilisiert ist, besteht die möglichkeit einer differenzierteren analyse oder sinnvollerer kritik, so dass aus der ganzen sache mehr konstruktives und bereicherndes, sinngebendes oder inspierierendes erfahren werden kann – für beide seiten. um auf deine frage zurück zu kommen – ja ich hab schon vor publikum gespielt dass, sagen wir mal, „aus einer ganz anderen ecke“ kam. und, wie zu erwarten, wird vieles was ich darbiete als „provokant“ abgetan bzw. als „befremdend“ empfunden, aber es gibt auch aus „diesen ecken“ eben immer wieder auch solche individuen, die grundtief berührt sind, und mir dies auch mitteilen – manchmal direkt vor ort, manchmal auch wochen oder monate später.

Würdest du dich als Tierrechtsaktivist bezeichnen?

vor 30 jahren hätte ich mich vielleicht so bezeichnet. da ich aber seither viel über alle möglichen verbindungen zwischen diversen themenbereichen, denen ich kritisch gegenüber stehe, dazu gelernt habe, wäre es wohl eine reduktion, sich „nur“ als „tierrechtsaktivist“ wahrzunehmen – auch wenn mir dieses thema nach wie vor sehr am herzen liegt.

Tiere kommen bei dir ohnehin in ganz unterschiedlicher Form „zu Wort“. Es gibt eine Reihe an Releases, die nur aus Feldaufnahmen von Tierstimmen – Insekten, aber auch Affen etc. – bestehen, du präsentierst diese Arbeiten auch live. Was reizt dich an diesen Sounds?

uff, das zu erklären… öh… das hat sicher mit „ästhetischer empfindung“ und einfach mit „es berührt mich“ zu tun. da steckt für mich auch ein immenser sprachreichtum, eine immense kommunikation dahinter. ein aspekt ist wohl auch dass ich „meine stimme“ gebrauche um „die stimme der tiere“ hören zu lassen. aber am anfang war, zum beispiel als ich mich das erste mal innerhalb einer tropischen insektensymphonie befand, einfach etwas … überwätigendes, eine demut, eine erhabenheit, etwas respekt zollendes… und etwas das mich klanglich total beeindruckte. von wegen „berühren“ – es gibt im englischen den ausdruck „it plays on the strings of my heart“…

Welche Funktion haben solche field recordings, wenn sie in deine „musikalischeren“ Arbeiten integriert sind?

es gibt verschiedene arten, wie ich field recordings präsentiere. da gibt’s die „reine“ form (also aufnahmen die unbehandelt sind, ohne effekte, manipulationen etc.), dann aber auch die manipulierte form. was mich an letzterer fasziniert ist die art wie sich der klang eines insektenschwarmes verändert, wenn er zum beispiel um 80% verlangsamt wird. ich treibe dazu gerne ein sinnesspiel, das mit der frage „wie würden wir insekten hören wenn wir insekten wären?“ umgeht. auch haben field recordings melodische und kompositorische elemente die ich faszinierend finde. die sind für mich viel interessanter als nachempfundene umsetzungen mit „instrumenten“ – ich liebe auch einfach die organische qualität dieser aufnahmen. die funktion… es kommuniziert. ich finde diese sprache enorm tiefgründig, wenn man ihr richtig zuhören mag.

Es wird bald eine Reihe an Videoarbeiten zu einzelnen Stücken von dir geben, u.a. sollen wohl GX Jupitter-Larsen und Jan van Hasselt etwas beisteuern. Was für Arbeiten werden das sein, und welche Künstler sind noch beteiligt?

neben GX und Jan van Hasselt werden noch Moju/Michel Pennec und Brian O’Reilly Videoarbeiten beisteuern. Die Vorgabe ist einzig, dass als Klangquelle meine Musik dient – alles andere ist offen. Die meisten Arbeiten habe ich selber noch nicht gesehen darum kann ich auch nicht sagen, wie sie werden.

Ich habe den Eindruck, dass du im Laufe der Zeit bestimmt Themen immer wieder neu aufgegriffen und variiert hast, auch alte Allianzen wie die Schimpfluch-Gruppe existieren nach wie vor. Gibt es auch Dinge in deiner Laufbahn, die definitiv abgeschlossen sind?

fear of god ist abgeschlossen, ketsu no ana auch. alle anderen projekte sind noch offen.

Welche Pläne hast du für die nächste Zeit? Bei unserem letzten Gespräch erwähntest du u.a. ein geplantes Album, das etwas rhytmischer ausfallen soll…

im moment ist ‚RISE’, eine lp für ideal recordings, in bearbeitung – es soll ende 2015 erscheinen – rhythmus wird darin einen zentraleren aspekt einnehmen. schon länger in planung ist ein buch mit photos von mir, 120 seiten, die zusammen mit einem neuen tonwerk ‚selective memory / perception’, welches beim karl schmidt verlag, hoffentlich noch dieses jahr, erscheint. eine flexi, zusammen mit michael esposito, erwartet auch veröffentlichung. diverse compilation beiträge sind fortan am laufen. ein weiteres projekt ist ein album mit „ambient“ arbeiten, dass ich für ein französisches label machen werde, das aber noch in den kinderschuhen steckt. letztes jahr, auf meiner reise/tour durch china, habe ich viele aufnahmen gemacht, die ich noch bearbeiten will – eventuell wird daraus auch eine veröffentlichung. ideen für ein oder zwei video-arbeiten, die in der für juni 2016 geplanten DVD platz finden sollen, sind auch vorhanden. ausserdem ist eine europa tour in bearbeitung, welche ich im september/oktober, zusammen mit mei zhiyong aus china, bestreiten werde. eventuell kann ich ende jahr auch nach südafrika, um an einem workshop teilzunehmen, und da werde ich auch einige konzerte  spielen. dann werden auch, mit rudolf und joke, einige schimpfluch gruppe daten in den staaten im juni 2016 angepeilt.

(U.S.)

davephillips.ch

Dave Phillips @ Schimpfluch

Dave Phillips @ Bandcamp