IRMLER / OSTERHELT: Die Gesänge des Maldoror

Maldoror ist der Archetypus des Rächers, und seine Rache ist universell. Sie richtet sich gegen den Schöpfergott und die Krone dieser Schöpfung, den Menschen, den er als Ungeziefer beschreibt. Selbst ein gefallener Engel, stößt ihn v.a. die selbstgefällige Scheinheiligkeit der Menschen ab, die Moral predigen und doch voll böser, engherziger Gedanken sind, die Gemeinschaft predigen und doch jeder für sich im eigenen Saft schmoren und sich nur ihren Illusionen von Liebe hingeben, die er zu entlarven und auszumerzen trachtet.

Selbst einmal ein Guter gewesen, ist der Engel beim Anblick der Menschen böse geworden, schrecklicher als Satan, dem gleich er als Verderber wirken will. Als hässlicher, furchterregender Alptraum schleicht er nun, meist nachts, durch die Stadt und vollbringt sein dunkles Werk. Allem voran den noch formbaren Kindern will er seine amoralische Philosophie des Faustrechtes einträufeln, wenn er nicht gleich dazu übergeht, ihr Blut zu trinken oder ihre Eingeweide zu zerfleischen. Sein größter Seelenverwandter ist ein Hai, interessanterweise ein weiblicher, der einen Schiffbrüchigen verschlingt. Der Hai ist nicht anders als die Menschen, die Erben Kains, doch im Unterschied zu ihnen heuchelt er nicht. Das Gott die Menschen nicht ohne Fehler geschaffen hat, so wie anscheinend ihn, kann er ihm nicht verzeihen.

Maldoror ist das dichterische Geschöpf des französisch-uruguayischen Autors Isidor Ducasse, der sich Comte de Lautreamont nannte. Sein damals alle Gattungsnormen sprengendes Buch „Die Gesänge des Maldoror“ erschien erstmals 1868 und wurde in den folgenden fünfzig Jahren nur von wenigen zur Kenntnis genommen. Ob dies an dem extremen Inhalt lag oder eher daran, dass das Buch mit seiner Mischung aus Bewusstseinsstrom, Erzählung und dramatischen Dialogen eher in James Joyces Zeit passte, muss Spekulation bleiben. All diese Dinge waren aber der Grund, warum sich die Surrealisten um André Breton in Maldoror geradezu verliebten und ihn endgültig einem größeren Publikum näherbrachten. Dass der Engel oft ebenfalls sehr menschlich anmutete und sein trivialer Hass oft lamoryant wirkt, schien sie nicht zu stören.

Seit dieser Zeit wurde sich immer wieder auf Maldoror bezogen, auch in der Musik. Nurse With Wound benannten ihr Debüt nach Maldorors Wirklichkeitskonzept, Current 93 schrien mehrfach seine Totenklage in die Welt. Die aktuellste Bezugnahme stammt von den deutschen Musikern Hans-Joachim Irmler (ehemals Faust) und Carl F. Osterhelt, die zusammen mit der Stadtkapelle Scheer und dem Münchner Modern String Quartett ein monumentales Kollagenwerk aus moderner Kunstmusik, avantgardistischen Synthieklängen und leichten Folklore-Anklängen geschaffen haben. Würde Brian de Palma eine Stummfilm-Pastiche auf der Basis des Buchs machen, wäre die vorliegende CD der ideale Soundtrack.

Ich erwähne den Filmbezug nicht grundlos, denn schon der kunstvoll amalgamierte Mixtur aus orchestralen Streicherklängen und dezenten und zugleich rauen Rockelementen ist v.a. stark szenisch ausgerichtet. Die ersten Minuten scheinen permanent zwischen Spannung und entfesselter Dramatik zu wechseln, perkussives Stampfen und Lärmen, erwartungsvolles Klappern mit den Drumsticks, kräftige Streicherriffs, hinter denen ein bunter Klavierperlenschauer vom Himmel herabregnet, Momente der Ruhe – all dies wird durch immer wieder plötzliche Brüche getrennt und wie die Gedankengänge beim assoziativen Schreiben gereiht, was die Dramatik noch steigert.

Einige Passagen der sechs meist instrumental gehaltenen „Gesänge“ sind derart gelungene Stimmungsbilder, dass man die Gemachtheit und Kollagiertheit des Ganzen fast vergessen könnte. Mit seinen lauernden, lugenden und immer wieder erlöschenden Streichersätzen scheint mir der vierte Gesang der subtilste, an dessen schleichendem Narrativ auch die Fülle der irgendwann einsetzenden Krautsynthies nichts ändern. Der folgende ist der mit dem vielleicht deutlichsten Kolorit eines alten Paris, zumindest bis die Folkmelodie des Fagotts von röhrenden Rockgitarren zersägt und später alles von einem Drone verschluckt wird. Unmittelbar zu Wort kommt Lautreamonts Maldoror nur an einer Stelle, wenn Gastrezitator Schorsch Kamerun (Die Goldenen Zitronen) eine Passage über die conditio humana und den Gott der Christen liest.

Da nur diese Passage unmittelbar auf das Buch Bezug nimmt, der Rest eher sehr frei an Spannung, Dramatik und Pathos des Buches erinnert, kann man in der opulenten Kollage eine originelle Interpretation des Stoffes sehen. Ganz unabhängig von diesem Bezug ist das Album auch in seiner fast symphonischen Durchmischung von Anleihen aus Stummfilmsoundtracks, Krautrock, Vintage-Elektronica und Folklore als Mosaik an Stilzitaten von Wert. (U.S.)

Label: Klangbad