RAFAŁ KOŁACKI: Ā’zan. Hearing Ethiopia

Es gehört nicht nur ein gutes Ohr, sondern auch ein gutes Maß an Kunstfertigkeit dazu, die Seele eines Ortes, oder bescheidener ausgedrückt: das, was einen Ort ausmacht, anhand seiner Klänge wiederzugeben. Man sollte Realist sein beim Aufspüren und Auswählen von charakteristischen Geräuschen, doch durch und durch Musiker, wenn es darum geht, diese so zusammenzusetzen, dass sie ohne allzu viel Verfremdung mit ästhetischem Gewinn gehört werden. Es gibt zahlreiche Künstler, die – ethnographische oder sonstige – Feldaufnahmen zu ermüdenden Slideshows reihen. Rafał Kołacki, ein weitgereister Klangjäger und nebenbei Mitglied der Ritualband HATI, gehört ähnlich wie Carlos Casas zu denen, die es verstehen, Orte auditiv erfahrbar zu machen.

Nach dem aus kurzen Aufnahmeschnipseln zusammengesetzten Porträt des berüchtigten „Dschungels“ von Calais widmet sich Kołacki wieder der Audiosphäre einer Großstadt, und diesmal führte seine Reise ihn in die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba, eine Metropole, die ethnisch, sprachlich und religiös so heterogen ist wie der ganze Vielvölkerstaat, der sie umgibt. Hier – so sagt es Kołacki in den Liner notes, und so klingt auch die CD – stößt der Besucher nicht nur mit der für geschäftige Orte typischen Vielzahl an Alltagsgeräuschen, sondern auch mit den unterschiedlichsten Sprachen und v.a. Musikarten zusammen, denn Musik, sei es religiöse oder weltliche, ist in dieser Stadt, deren Name auf deutsch neue Blume heißt, besonders allgegenwärtig. Die Gebete und liturgischen Gesänge, die auch zu ungewöhnlichen Zeiten aus den orthodoxen Kirchen dringen und westliche Ohren an den islamischen Gebetsruf erinnern, der Singsang der Passanten und arbeitenden Menschen auf den Straßen, die Lieder der einheimischen Populärmusik, die aus Radios und Smartphones ertönen – sie alle bilden zusammen mit dem typischen Straßenlärm eine Kulisse, die etwas musikalischer anmutet als die vieler anderer Städte.

In den eröffnenden Szenen des Albums, dessen Titel „Ohr“ bedeutet, verschmelzen Gesänge, die ich ohne Information vielleicht als asiatisch eingeordnet hätte, und schwer zu definierende Instrumente, vermutlich aus einem Kneipenradio, ganz selbstverständlich mit Motoren, Schritten und Gesprächsfetzen. Es ist eine interessante Frage, was den Aufnahmen ihre alte Patina verleiht – vielleicht ist es die Distanz zahlreicher Geräusche, vielleicht auch das anfangs allgegenwärtige Vogelzwitschern, oder das rhythmische Klatschen einer vorbeiziehenden Menschengruppe, das sofort die Fantasie anregt: Wie würde eine Musik mit diesem Takt klingen, wenn eine traditionelle oder moderne Band sie spielte? Schnell bekommt die Darstellung etwas Panoramisches, führt das titelgebende Ohr an Straßenecken und in Bars. Und überall, bei dem Klang der fremdartigen Sprachen, bei den wunderschönen Flötenmelodien, bei all den akzentuierenden Details, bei denen das Ohr gerade so lange verweilt, dass die Eindrücke nicht verfliegen, vermischen sich all die Klischees, die man über Äthiopien hat, mit dem reichhaltigen Stoff: die oft exotisierte Jazztradition des Landes, seine mythische Aura für die Rastafaris in Jamaika, die lange Geschichte des äthiopischen Christentums mit seinen vielen jüdischen Elementen, das schwarze Gold namens Kaffee, dass hier seinen Ursprung hat, die stolze Anmut seiner Menschen, die Armut, deren Bilder man aus früheren Zeiten kennt.

Kołacki hat ein versiertes Händchen für die Erzeugung von Stimmungen und Spannungskurven, und m.E. ist die Erkundung dann am interessantesten, wenn die Szenen etwas unruhiger und dramatischer werden, wenn die unterschiedlichen Gesänge von Hupen, Pfeifen und aufgeregten Dialogfetzen übertönt werden, wenn „exotischer“ Gesang für Momente hinter Peitschenknallen und plötzlichem Donner verschwindet und selbst die Vögel außer Rand und Band sind. Schwer zu sagen, ob diese Eruptionen, die eine folkloristische und zugleich urbane Handschrift tragen, spontanen Gemütserhitzungen oder einem Volksfest entspringen.

Das Porträt der Stadt und der vielen namenlosen Beitragenden erscheint dreihundertmal im aufklappbaren Ecopak und ist, dank der Gestaltung von Mirt, auch optisch sehr ansprechend.

Label: Zoharum