V.A.: Alternate African Reality

Eine andere afrikanische Wirklichkeit – die Formulierung sagt sich leicht, und doch kann ganz Unterschiedliches damit gemeint sein. Wie auch immer man sich hierzulande die soziale, ökonomische, kulturelle Realität auf dem Nachbarkontinent vorstellt, sie wird etwas anders sein als hier. In jeder Region des Kontinents gibt es aber auch Untypisches, Subkulturelles, das sich wie auch hier von den kulturellen Hauptströmen unterscheidet. Vor allem aber hat die Wirklichkeit in welchem afrikanischen Land auch immer wenig mit den rassistischen oder romantischen Klischees gemein, die sich in unseren Breiten auch lange nach dem Ende der kolonialen Epoche hartnäckig halten: Safaris im dunklen Kontinent, bittere oder je nach Blickwinkel würdevolle Armut, exotische Schönheit(en), Stammeskriege, Söldnerheere und tyrannische Warlords. Man muss nicht abstreiten, dass es diese Dinge gibt, doch während ihre aufgeblähten Abbilder in unterhaltsamen Formaten vom Mondo-Film bis zur Vice-Doku im Zentrum stehen, fallen sie in den meisten Realitäten weit hinter den Alltag, der meist weniger bombastisch, doch ebenso reichhaltig ist, zurück.

Cedrik Fermont, der die vorliegende Sammlung zusammenegstellt und herausgebracht hat, arbeitet sich in seinem beiliegenden Essay an einigen dieser reißerischen Klischees ab und bezieht sich passenderweise auf ein weiteres Phänomen, nämlich den Exotismus in der Musik. Dabei bezieht er sich weniger auf gefällige Weltmusik, sondern auf deren räudigere Variante am Beispiel von William Bennett (Come, Whitehouse, Cut Hands). Dieser brachte 1997 eine Compilation namens “Extreme Music from Africa” heraus (die Reihe wurde mit Sammlungen zu extremer Musik aus Japan, aus Russland und von Frauen fortgesetzt), die sich einige Zeit später als Fake herausstellte. Bennett, der sich entweder einen Scherz erlaubt hatte oder, was näher liegt, nicht mit den Entwicklungen des Internets zu einem wenige Geheimnisse ungelüftet lassenden Medium rechnete, hat einen Großteil der Musik des Samplers selbt produziert und die Interpretennamen erfunden.

Fermont bemüht gar nicht die Argumente der zum Teil recht lauten Kritiker der cultural appropriation, nach denen jede Adaption fremder Kulturpraktiken, unabhängig von der Intention und der Qualität der Unsetzung, unrechtens sei, sondern bezieht sich primär auf die Klischeehaftigkeit v.a. der Namen und Songtitel, die einen verwegenen, bluttriefenden Exotiosmus bedienen und darüber hinaus wenig Kenntnisse der vermeintlichen Herkunftsländer vermuten lässt (ein Titel stammt bspw. aus der Tradition eines Volkes einer Pazifikinsel). Fermont sieht diese Unausgegorenheiten als recht typisch für das Afrikabild vieler Europäer und räumt v.a. mit der Vorstellung eines “afrikanischen” Kulturkreises auf, der alle regionalen Unterschiede, die jene zwischen den europäischen Ländern an Heterogenität weit übertreffen, nivelliert. So ist die afrikanische Wirklichkeit letztlich nicht nur in den Großregionen Nord-, Ost-, West- und Südafrika, sondern in jedem Land und in jeder Provinz eine jeweils andere.

Was zahlreiche Länder des afrikanischen Kontinents gemeisam haben, ist der enorme Fundus an ungewöhnlicher Musik, die seit langem (in den vierziger Jahren komponierte der Ägypter Halim E-Dabh experimentelle Musik) in zentralen Hochburgen, aber auch in versteckten Winkeln produziert wird. Elektronik und Elektroakustik, Improvisiertes, Dunkles, Lärmendes, Dröhnendes und alle anderen Arten experimenteller Wagnisse sind üppig vorhanden und lassen bei den wenigen, die von dieser Vielfalt wissen, bei jedem musikalischen Blackfacing zwangsläufig die Frage nach dem Warum aufkommen. Auf “Alternate African Reality – Electronic, Electroacoustic and Experimental Music from Africa and the Diaspora” hat Fermont, der selbst im Zaire der 70er, der heutigen Demokratischen Republik Kongo, zur Welt kam und den Kontinent später immer wieder bereiste, 32 ihm meist persönlich bekannte Acts zusammengestellt – quer durch alle genannten Musikarten und aus insgesamt 26 Ländern, wobei sich weibliche und männliche Interpreten in etwa die Waage halten. Genres, die Pop oder Rock nahekommen, und generell tanzbare Musik wurden ausgespart oder auf ein Minimum reduziert, ebenso Stilrichtungen, bei denen traditionelle Einflüsse dominieren.

Über weite Strecken hält sich der Eindruck, dass bei der Auswahl auch hier wieder auf eine Syrphe-typische Feinsinnigkeit in der Soundgestaltung und der Stimmung geachtet wurde. Viele Stücke der ersten CD sind von getragener Art, so der Opener der tunesischen Künstlerin Mash, die in ihrem verrauscht-ambienten “Sand Wave” mit den schwermütigen Spoken Words ein Interesse an dunklem Post Industrial erkennen lässt. Die aus Ghana stammende Pö hat ein vielschichtiges kanonartiges Stück komponiert, das nur auf dem Einsatz ihrer Stimme basiert, die Ägypterin Jacqueline George geht ganz ähnlich vor. Viele Künstler haben elektroakustische Arbeiten beigesteuert, die einen gewissen Minimalismus mit perkussiven Elementen verbinden, die dezent und hintergründig genug bleiben, um einen ambienten Grundcharakter zu wahren: Robert Machiri (Zimbabwe) mit seinen klassischen Filmscore-Anleihen, die seinem Beitrag eine subtile Grundierung geben, das kenianisch-ugandische Duo [MONRHEA] & Ejuku, das seinen klanglichen Reichtum nur heimlich hinter einem reduzierten Klangbild hervorlugen lässt und so ein besonders spannendes Setting entwirft, der aus Reunion stammende Jako Maron mit einer spannungsgeladenen metallischen Brandung und einige mehr. Auch der an Xylophon und Reibe erinenrnde Sound des internationalen Trios Luca Forucci, Cara Stacy und Mpho Molikeng weist in diese Richtung, gefolgt vom kammermusikalischen Score Tiago Correia-Paulos aus Mosambique.

Von düsteren Klanglandschaften (Ibukun Sunday aus Nigeria, KMRU aus Kenia, Cobi van Tonder aus Südafrika, Victor Gama aus Angola, der kurze Track vom Kurator selbst) über treibende Genrehybride (Ujjaya aus Madagaskar, AMET aus Kamerun mit einem Mix aus Harmonigesang und Noise, Hibotep aus Äthiopien, Aragorn23 aus Südafrika, The Age of Heroes aus Südsudan, der Industrial von Sukitoa o Namau aus Marokko, Ray Sapienz aus DRK) bis zu hörspielartigen Szenarien (Redha M aus Algerien, die aus Ruanda stammende Aurélie Nyirabikali Lierman, Shadwa Ali aus dem ägyptischen Alexandria mit einer Überblendung aus Straßengeräuschen und Glockengeläut wie durch eine beschlagene Scheibe gesehen, die ähnlich arbeitnden Emeka Obgoh aus Nigeria und Chantelle Grey aus Südafrika) werden alle Register im Umgang mit ungewöhnlichen Sounds gezogen, seien diese nun elektronisch erzeugt, auf traditionellen Instrumenten eingespielt oder auf der Straße oder in anderen Schauplätzen gesamplet, in denen Menschen und Maschinen zusammen an der Symphonie des Alltags werkeln. Obwohl Fermont genuinen HipHop ausgeklammert hat, enthalten einige der vokallastigeren Stücke Rap-Passagen, namentlich der aus Togo stammende und hier mit dem schweizer Kollegen Simon Grab spielende Yao Bobby, Mario Swagga und DJ Silila aus Tansania, Catu Diosis aus Uganda und Beko The Storyteller, die eine kämpferische Hommage an “Black Women” schmettert, bei der doch alle Mühsal durchscheint. Aus der Reihe fallen der surreale Drum’n'Bass von AFALFL aus Mauretanien und der luftige Loopsound des Senegalesen Ibaaku.

Durch eine Compilation wie “Alternate African Reality” kann im Grunde jeder nur gewinnen. Die Musiker erhalten so hoffentlich Aufmerksamkeit, erschließen international neue Hörerkreise und können sich, auch innerhalb Afrikas, vernetzen. Musikfreunde außerhalb Afrikas können sich über eine Fülle hochwertiger und noch weitgehend unbekannter Elektroakustik, Ambient-, Improv- und Geräuschmusik freuen, doch gratis dazu gibt es einige Anstöße, den eigenen Blick auf das Interkulturelle in der Musik zu überdenken.

M.E. muss es nicht darum gehen, die Leistung der hier versammelten Künstler gegen Prankster wie Bennett auszuspielen. Mit mehr Einsatz bei der Recherche hätte sein Streich ganz originell sein können, und wer wie der Rezensent seiner Musik (ebenso wie den Flausen anderer Romantiker wie Martin Denny, Karl May, Paul Gaugin u.v.m.) etwas abgewinnen kann, sollte den Teufel tun, sich das vermiesen zu lassen. Aber man sollte all diese Erzeugnissen moderner und spätmoderner Sehnsucht, ganz gleich, ob sie harsch oder betulich daherkommen, nicht für einen Zugang zum kulturell Fernen und Fremden halten, und man sollte sich auch nicht vom Reiz ihrer Verspieltheit um die echten Stimmen aus anderen Kulturen bringen lassen. Dass diese, wenn sie Musik sind, ebenso “grooven” und ähnlich gelagerten Erzeugnissen aus Europa oft ähnlicher sind als gedacht, erfährt man auf diesem Sampler. Der und ähnlich geartete Projekte wären letztlich dann am erfolgreichsten, wenn die vertretenen Acts ganz selbstverständlich bei je nach Ausrichtung CTM, Atonal, Unsound, Maschinenfest, A L’Arme etc. zu sehen wären, schlicht aufgrund ihrer Qualität und nicht, weil gerade “Weltmusik” hip ist. (U.S.)

Label: Syrphe