HÜMA UTKU: The Psychologist

Wenn in “The Psychologist”, dem neuen Longplayer der Komponistin und Producerin Hüma Utku, eines schon in den ersten Minuten deutlich wird, dann dass die einzelnen Stücke keinen Schauplatz haben, sondern in ihrer wechselvollen Dynamik viel eher in steter Bewegung zwischen den Orten zuhause sind. Aus einem eher rauen, griffigen Dröhnen, das den aufgeweckten Opener “Fuel for the Flames” einleitet, kristallisieren sich verschiedenfarbige Sounds und bilden immer wieder neue Bewegungen, und auch wenn die kommenden Tonfolgen nie vorhersehbar sind, lässt sich doch eine Steigerung bemerken: Die mitunter scharfen elektronischen Soundgebilde geraten mit der Zeit immer alarmierender, sirenenhafter und kulminieren irgendwann in eine reine Karambolage.

Die Intensität und der sich in der Veränderung zeigende Ideenreichtum ziehen sich durch weite Teile des Albums, was vielleicht auch daher rühren mag, dass die Musikerin, die früher unter dem Namen R.A.N. auftrat, auf dem Album zwei Lebensbereiche zusammenbringt: Die aus Istanbul stammende Künstlerin hat neben ihrer Laufbahn als Musikerin einen Abschluss in Psychologie und ein Interesse an verschiedenen Bereichen ihres Fachs entwickelt. Wahrscheinlich haben die dort gemachten Erfahrungen immer wieder im Kleinen auf ihre Musik eingewirkt – auf “The Psychologist” versucht sie erstmals ihr Interesse an der menschlichen Psyche direkt in der Musik einzufangen, ihre Tracks versteht sie dabei als Sonic Essays, die mit Buchla und anderen Synthies, Lärm, Rezitation, klassischen Instrumenten und einigem mehr bestimmten Themen nachgehen.

Natürlich muss niemand mit psychologischem Hintergrundwissen aufwarten um die keineswegs trockene Musik ästhetisch zu erfassen, dennoch sind einige der Titel Wegweiser, die ein kleines Stück Bedeutungshorizont mehr eröffnen (oder vielleicht auch einengen). “Dissolution of I” erinnert aufgrund seines spannungsgeladenen Brummens und einer hektisch klappernden Perkussion zunächst eher an kraftvolles Voranpreschen als an Auflösung. Letztere vollzieht sich allerdings durch mehrere Kurswechsel, die über D’n'B-Gewitter in dunkler Umgebung bis zu abstraktem Quietschen und Rauschen führen.

Man müsste allen neun Sonic Essays beschreibende Essays folgen lassen, um ihren klanglichen und atmosphärischen Reichtum adäquat einzufangen. Utku arbeitet an einigen Stellen mit schwer greifbaren klangfarblichen Kontrasten, was Tracks wie dem nach einem kreativen Mechanismus der Angstabwehr benannten “Sublimation” oder “Chironian Wound” doppelte Böden gibt, die zusammen mit trügerisch vertraut wirkenden Sounds (ein schreiendes Kind in “Sublimation”?) und einer oft soghaften Anziehung zum Irrgartencharakter der Stücke beiträgt. Durch ein solches Labyrinth führt auch das von der Traumanalyse der Gestaltpsycholigie inspirierte “Rüya”, dessen filmreife Kollage aus Streichern, Elektronik und Spoken Words wie ein neoklassisch-surreales Hörspiel anmutet. Eine Art Verlorenheit angesichts des Diffusen zeigt sich an wenigen Stellen so deutlich wie in “Islands of Consciousness”, wo ein überschaubares Set an greifbaren Klängen von ozeanischer Brandung umspült wird wie ein kleines Territorium des Ichs von einem Meer aus Trieben und anderen unbewussten Determinanten.

Dass “The Psychologist” zwar eine spannende, aber keineswegs nur beängstigende Platte ist, zeigt sich an einigen Stellen besonders deutlich, nämlich immer dann, wenn durch stete Abfolge oft filigraner Soundgebilde eine Art Verspieltheit ins Bild kommt. Und natürlich bei “Light of all Lights”, dessen melancholisch-fragender Pianopart m.E. das anrührende Herzstück des Albums ist.

Was an dem inhaltlichen Überbau der Platte beeindruckt, ist ein interesse an zum Teil recht unterschiedlichen Bereichen der Psychologie, in der integrative Ansätze lange Zeit ein fast schmerzliches Desiderat waren und nicht selten ignorantem Schubladendenken geopfert wurden. Dass die musikalische Seite nicht zuletzt durch eine Unkalkulierbarkeit beeindruckt, bei der sich nie leicht erahnen lässt, wie sich ein Track entwickelt, macht sie zu einem mehr als geeigneten Medium, um diese Themen “erfahrbar” zu machen. (U.S.)

Label: Editions Mego