NICK GREY: Sleepwalking Through A Day (2004-2024)

Der französische Sänger und Musiker Nick Grey hat im vergangenen Jahr zusammen mit Charles Pietri sein lange auf Eis liegendes Cold Pop-Projekt L’Eglise du Mouvement Péristaltique Inversé wiederbelebt und ein großartiges Comebackalbum herausgebracht. Zeitgleich arbeitete er bereits an einer umfangreichen Retrospektive zu seinem restlichen Werk, das er in den Nuller- und Zehnerjahren entweder solo oder mit seiner früheren Band, dem stets variablen Random Orchestra produzierte. Zusammen mit dem Klangkünstler Peter James, der auch das Mastering für diese Compilation übernahm, nahm Grey zudem vier neue Songs auf, die seine aktuellen musikaischen Interessen durchscheinen lassen und sich dennoch nahtlos in seine Diskografie einfügen.

Die “Sleepwalking Through A Day” betitelte Sammlung bietet einen Querschnitt durch zwanzig Jahre seiner musikalischen Arbeit und ist in zwei thematische Teile untergliedert: “The Shakes” beleuchtet die zugänglichere, poppigere Seite von Greys Musik, während “The Vapours” die dunkleren, experimentelleren Facetten in den Vordergrund rückt. Beide Seiten greifen auf unterschiedliche ästhetische und emotionale Mittel zurück, die Greys Markenzeichen sind: komplexe Arrangements, ironisch gebrochene Melancholie und eine meisterhafte Balance zwischen Intimität und Theatralik. Dabei sollte man auch immer festhalten, dass diese beiden Tendenzen nicht vollkommen unverbunden nebeneinander stehen, denn in allen Shakes ist immer auch eine Brise Vapours enthalten et vice versa.

Ein Höhepunkt der Compilation ist zweifelsohne gleich das eröffnende Titelstück des “You’re Mine Again”-Albums von 2014. Der Song besticht durch seine originellen Midtempo-Rhythmen und ein raffiniertes Zusammenspiel von Gitarren, Synthesizern, einem erschöpft wirkenden Gesang und einer charmant knarzenden Bläsersektion. Diese orchestrale Pop-Komposition zieht den Hörer mit ihrem ironisch-exotischen Unterton in den Bann und erzählt von der Liebe als Grenzerfahrung – zwischen Abhängigkeit, Misstrauen und der Illusion eines fragwürdigen Idylls, die trickreicherweise aber auch eine gehörige Portion echter Schönheit enthält. Doch in der Ernsthaftigkeit des Songs schimmert stets ein Hauch von Ironie, der den Abgrund hinter den Oberflächen entlarvt. Ebenfalls hervorzuheben ist das gleich folgende “Look Like Moses” aus Greys Frühwerk (“Regal Daylight”, 2004). Mit einer fesselnden Synthie-Klarinetten-Mischung und minimalen, stoischen Takten entfaltet der Song eine entrückte Schönheit, die durch die schwebenden Tenorvocals von Nicks Vater Vasile Moldoveanu noch verstärkt wird. Die mehrstimmigen Gesangsharmonien sind ein brillantes Beispiel für Greys Fähigkeit, Melodien und Emotionen zu verweben.

Mit “Vanisher” vom Album “Breaker of Ships” (2015) gelingt Grey ein emotionaler Spagat. Das akustische Gitarrenpicking, das bisweilen an ein Banjo erinnert, schafft ein sanftes, introspektives Szenario, das jedoch durch eigenwillige Percussion in ungewohnte Gefilde gleitet. Der theatralisch-resignative Song über das Verschwinden changiert einmal mehr zwischen Pathos und Ironie. Unter den neuen Songs überrascht besonders “The Monumental”. Hier zeigt sich der Einfluss von Greys Arbeit mit L’Eglise du Mouvement Péristaltique Inversé: futuristische Synthie-Klänge, eine geschrammelte Mandoline und hypnotischer Gesang erzeugen eine entrückte Atmosphäre, die eine Spur von Unheil subtil aufscheinen lässt. Ein Hauch von Science-Fiction und düsterer Eleganz macht den Song zu einem der faszinierendsten Stücke der Compilation, und wäre das Stück auf französisch gesungen, hätte es mit ein paar Gitarrenriffs auch auf das Album der Eglise gepasst.

Nicht weniger beeindruckend ist das besinnliche “Juliet of the Spirits”, dessen pastorale Gitarrenpickings von von zwiespältiger Zartheit sind. Es steigert sich in eine emotionale Opulenz, die Greys meisterhafte Klangdramaturgie unterstreicht. Auch das (u.a. dank der Klarinette Gregory Dorias) düstere “The Endless Pink”, ursprünglich 2006 erschienen, fesselt mit seiner kammermusikalischen Aura, mit schrägen Texten und einer anheimelnden Piano-Begleitung. Mit “Hiding In Seaweed” zeigt Grey ein kompositorisches Händchen für die Verbindung von Sopran-Gesang und ambienten Flächen. Jasmine Pinkertons außergewöhnliche Vokalperformance verleiht diesem Stück mit hochschwingenden Ornamenten die kunstvolle Aura eines Jugenstilgemäldes. Ebenso berührend ist “The Zealot”, das mit seiner melancholischen, chansonhaften Sea-Shanty-Atmosphäre und Pinkertons Sopran eine ganz eigene Schönheit entfaltet.

Generell bietet zweite Hälfte der Compilation eine ebenso tiefe, aber gleichsam sperrigere, schrägere Dimension von Greys Werk. “November Fadeline”, ursprünglich 2004 auf dem “Regal Daylight”-Album erschienen, zeigt einen Nick Grey, der noch stärker introspektiv agiert. Jasmine Pinkertons Piano erzählt dabei fast eine eigene Geschichte – mit Rhythmen, die seltsam drübergeklebt scheinen, und einer ganz eigenen Intimität. Greys manchmal ins Falsett wechselnder Gesang verstärkt das heimelige Gefühl, während die leicht verschrobene Ästhetik eine charmante Schrägheit offenbart. “Your Greatest Hunger” von 2008 eröffnet mit Handclaps ein Szenario, bei dem man fast Gospel erwartet, und das mit der Zeit ein zunehmend komplexe Struktur entfaltet. Das düster-soundscapige “Tammuz” vom “Thieves Among Thorns”-Album setzt mit Dorias Klarinette ein, die an ein drohendes Nebelhorn erinnert. Das in steter Abfolge ertönende Saitenglissando und die hibbelige Rhythmik, die sich später entfaltet, sorgen für neue unorthodoxe Kontraste. Eine weitere neue Kollaboration mit Peter James ist “The Fading Light Of November”, der Song beginnt mit dunkel fatalistischen Pianofiguren und einer endzeitlichen Dröhnung, bevor Greys ergriffener Gesang einsetzt. Das Stück steigert sich zu einem schwer zu beschreibenden, schrillen Synthie-Freakout und hinterlässt einen tiefen Eindruck.

Ein weiterer bisher unveröffentlichter Track, der bereits 2017 in Berlin aufgenommen wurde, ist “What I’ve Become”. Dieser „Wavesong“ strahlt eine kühle Melancholie aus, die sanft, aber unaufhaltsam nach unten zieht. Louis Pontviannes Bass und Elie Grangers zirkusorgelähnliches Keyboard schaffen eine resignierte Atmosphäre, die von Greys gelassenem Gesang perfekt ergänzt wird. Das abschließende “End Of All” führt mit düsteren Klangtexturen und nachdenklichem Gesang an der Grenze zur Rezitation in die Abgründe der menschlichen Seele. Greys textliche und musikalische Tiefe erreicht hier ihren Höhepunkt, indem er ein zerbrechliches Gleichgewicht zwischen Resignation und einem Hauch von Gelassenheit wahrt.

Diese Sammlung ist eine regelrechte Schatztruhe für alle, die durchaus Pop suchen und zugleich bereit sind, sich auf manchmal komplexe und immer vielschichtige Klangwelten einzulassen. Insgesamt ist “Sleepwalking Through A Day” mehr als nur eine Retrospektive: Das Release zeigt einen Songschreiber, der immer wieder rmeisterhaft kleine Psychogramme skurriler Einzelgänger zu zeichnen versteht, der die absurden Kollateralfolgen der Liebe und anderer Gefühlszustände mit sperriger Songwritermusik erkundet und ihnen einen einzigartigen, niemals eindimensionalen Kommentar verleiht. Unter Greys Feder, so schrieb ich einmal, wären Fräulein Else und der junge Werther zu Thomas Bernhard-Figuren mutiert – und hätten sich, paradoxerweise, gerade deshalb nicht einmal umbringen müssen. Es zeigt außerdem einen Künstler, dem niemals die Ideen für originelle Details ausgehen und dessen Songs alldem zum Trotz nie überladen wirken. Nicht zuletzt zeigt es auch einen Meister des kreativen Dialogs, der immer wieder interessante Resultate aus unterschiedlichen Kollaborationen zieht, wobei ich besonders die Klarinette Dorias auf den frühen Alben hervorheben möchte.

Ob es in der nächsten Zeit weitere Arbeiten solo oder mit dem Random Orchestra geben wird oder ob Grey sich zunächst auf die Kirche der umgekehrten Verdauung konzentrieren wird steht noch in den Sternen, aber dass irgendwas interessantes passieren wird, kann als fast sicher gelten. (U.S.)

Label: Milk & Moon Recordings