MUNSHA: The Fall of the Astronauts

Mit “The Fall of the Astronauts” legt die in Berlin lebende Komponistin, Cellistin und Sängerin Munsha ein Werk vor, das sich nicht in gewohnte musikalische Kategorien einordnen lässt. Das Album basiert auf dem vor einigen Jahren von ihr verfassten Musiktheaterstück “Alices Geschwister”, das psychische Ausnahmezustände im Spiegel gesellschaftlicher Normierungen thematisiert. Lewis Carrols Roman Alice im Wunderland dient hier nicht als bloße literarische Vorlage, sondern als Folie für eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit psychiatrischen Systemen, Zwangsbehandlungen und den Grauzonen individueller Identität.

Musikalisch bewegt sich Munsha zwischen Avantgarde, experimenteller Elektronik, Artpop, Jazz und klassisch inspirierten Ansätzen. Ihr akademischer Hintergrund verbindet sich dabei mit einem deutlich spürbaren unabhängigen Geist: Sie schreibt nicht für eine bestimmte Szene, sondern entfaltet ihre Kunst entlang inhaltlicher und emotionaler Notwendigkeit. Dies zeigt sich auch in der sehr organischen Verflechtung von Cello, Stimme, Elektronik und an allen möglichen und unmöglichen rten aufgefundenen Sounds.

Der Eröffnungstrack “A New Home” wirkt wie ein langsames Aufwachen mit verwaschenen Klangschichten, sich aufbauenden, rauschenden Texturen und einem schwer zu ortenden, beinahe körperlos anmutenden Sound. In der Ambivalenz zwischen Kühle und subtil aufscheinender Sensibilität setzt das Stück einen atmosphärisch starken Auftakt. Auch in weiteren Tracks zeigt sich diese Ambiguität: In “Voyage” kontrastieren etwa verspielte Elemente wie Glockenspiele oder Klaviertupfer mit jazzigen Rhythmen und einem Gesang, der zwar formal an klassischen Sopran erinnert, dabei aber überraschend popnah wirkt, wenn Munsha ihre Stimme mit einem gewissen Augenzwinkern durch die Zeilen “She’s a wolf that sings to the moon” tänzeln lässt. Immer wieder bricht das Album mit konventionellen Strukturen. “Lacie’s Theme” scheint so etwas eine ruhige Piano-Etüde zu sein, doch verändert sich der Takt ebenso wie die instrumentale Gestaltung stetig, bis das Stück beinahe unmerklich in eine andere Richtung driftet. Solche Übergänge – abrupt oder schleichend – gehören zum konzeptionellen Kern des Albums. Nichts bleibt fixiert, alles ist in schwer zu greifender Bewegung. Dies spiegelt auch das Stück “Bourdons des Charmeurs”, das mit einer rauen, fast aggressiven Dröhnung beginnt, um später von metallisch anmutenden, klangsensiblen Elementen überlagert zu werden. Harmonie wird hier nicht gegen Störung ausgespielt, sondern als fragiles Zusammenspiel beider erfahrbar gemacht.

Mitunter erinnert der elektronische Einsatz an Einflüsse aus der New Wave oder auch der experimentierfreudigeren Seite des NDW, etwa in “The Daze”, wo synthetische Klangmuster, ein treibender Rhythmus und eine vokale Präsenz zusammenkommen, die an Underground-Ikonen wie Mona Mur denken lässt. Auch “EKT (The Fight)” bleibt rhythmisch komplex, dabei aber klar strukturiert und immer wieder durchsetzt von kleinen, überraschenden klanglichen Einsprengseln, die sich dem rein Funktionalen entziehen. Diese Dichte und ständige Veränderung durchzieht das gesamte Album und verhindert jegliche Form von Eindeutigkeit. Ein zentrales Stück ist das titelgebende “The Labyrinth of Astronauts”. Hier nimmt das Cello eine dominantere Rolle ein, ohne sich in der Vordergrund zu drängen. Alles bleibt durchlässig, zerfließend, der Track bekommt stellenweise etwas beinahe Orchestrales, ohne orchestriert zu sein. Immer wieder blitzt auch Munshas Stimme auf, bruchstückhaft, fragil, präsent. Gerade diese Stellen machen deutlich, wie eng auf dem Album Inhalt, Intention und Ausdrucksmittel verwoben sind.

Das Thema des psychischen Ausnahmezustands wird auch im textlich geprägten Stück “Der Garten” besonders eindrücklich verarbeitet. Hier verschränken sich narrative Passagen mit einer stark hallenden, fast liturgisch wirkenden Stimmenführung. Der Text, eine Art Gleichnis auf gesellschaftlich durchgesetzte Pathologisierungen von Differenz erzählt, berichtet von zwei Schwestern, ihren Träumen, Klängen und Farben, die als krankhaft gelten, wenn sie nicht ins Raster der Normalität passen. Vögelstimmen im Hintergrund wirken wie ein Kommentar, vielleicht wie ein griechischer Dramenchor, vielleicht aber auch wie ein Echo der inneren Welt der Protagonistinen. Auch “Suzes Flamme”, ein nur wenige Sekunden kurzer Track, stellt mit seinem lakonischen Text – “Kennst du die kleine Grenze, den Unterschied zwischen dir und mir?” – eine prägnante Zäsur dar.

Dass Munsha sich nicht auf eine Rolle beschränken lässt, zeigt sich in ihrer musikalischen Herangehensweise ebenso wie in ihrer Haltung zu Themen der Psychiatrie. In einem Interview sagt sie: “Ich wollte weder die Geschichte einer Geisteskrankheit noch die eines bestimmten ‘psychopathologischen Subjekts’ erzählen, sondern vielmehr, wie die Heilung das eigentliche Problem ist.” Sie stellt nicht die Notwendigkeit von medizinischer Hilfe in Frage, wohl aber deren Anwendung als standardisierte, normierende Maßnahme. Die Erzählstimme des letzten Stücks, “Rosa Kaninchen”, wirkt in diesem Zusammenhang besonders bitter. In dieser beinahe einlullenden Jazzballade übernimmt sie die Stimme einer normierten Welt, die vorgibt, den richtigen Weg zu kennen und gibt so ihrem Publikum einiges zum Verdauen mit auf den Weg.

Inspiration fand Munsha sowohl in literarischen als auch in realen Biografien, neben bekannten Namen wie Foucault, Goethe oder Carmelo Bene zählen dazu auch persönliche Begegnungen sowie Betroffene psychiatrischer Gewalt. Diese Verwebung von dokumentarischem Material mit künstlerischer Form verleiht dem Album eine Tiefe, die nie illustrativ, aber stets markant und von Haltung durchdrungen ist. “The Labyrinth of Astronauts” ist ein musikalisch wie thematisch vielgestaltiges Album, das sich mit großer Ernsthaftigkeit, aber ohne den berühmten Zeigefinger einem schwierigen Thema widmet. Dass es dabei formal so abwechslungsreich, durchlässig und oft auch schön ist, macht es zu einem der spannendsten und eigenständigsten Werke aus dem aktuellen Grenzbereich von Musik, Theater und politischer Kunst. (U.S.)

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