COIL: Black Antlers

Wenn man wieder in einem Anflug des Bedauerns die Liste der nicht realisierten Coil-Projekte betrachtet, dann wird wieder klar, dass Coil Meister des Ankündigens von Projekt(nam)en waren. Beim Durchschauen der hervorragend kuratierten und gestalteten bei Timeless erschienenen Bücher „The Cupboard Under The Stairs“ und „The Universe Is A Haunted House“ (letzteres leider nicht mehr lieferbar) kann man sehen, wie Textzeilen, Titel, Ideen teils nach Jahren (wieder) aufgegriffen wurden.

All dies spiegelt sich auch in der Coil’schen Discography wider, die ein manchmal schwer durchschaubares rhizomatisches Geflecht ist. „Coil historiography can often be complex and impenetrable, a confusing warren of CDRs, alternate versions, live recordings and so on“, hieß es jüngst noch in einer Rezension von „Black Antlers“. Man kann sich etwa fragen, was man zu den „regulären“, „offiziellen“ Alben zählt, gehören dazu (auch) die, die in den 90ern unter verschiedenen Projektnamen erschienen, was ist mit „Queens Of The Circulating Library“, das einzige ohne Sleazy entstandene Album?  Und was hat das alles mit „Black Antlers“ zu tun?

Nachdem sich Coil mit Hilfe Thighpaulsandras als Liveband neu (er-)fanden, hatte jede Tour eine andere Setlist, eine andere musikalische Ausrichtung: “From 1999 to 2003, Coil was ‘like a snake shedding its skin,’ transforming every six months into something ‘completely different.’”, heißt es von Labelseite. Auf diesen Touren verkauften Coil CD-Rs mit neuem Material, “The Remote Viewer” oder eben “Black Antlers”, das 2004 während der sogenannten „Even An Evil Fatigue“-Tour, die durch sechs Städte führte, erhältlich war. Der Verfasser dieser Zeilen erinnert sich noch, wie er im (ursprünglichen) Londoner Rough Trade-Shop am Nachmittag vor dem Auftritt Coils im Ocean Club, ein Exemplar des Albums fand und mit einem Freund das bis dahin unbekannte Material, das die Basis des Auftritts bilden sollte, hörte.

„Black Antlers“ ist verglichen mit Alben wie „Musick To Play In The Dark“ wesentlich weniger glatt produziert und dem Material haftet durchaus ein Moment des Unfertigen an. Jonathan Dean stellte damals auf Brainwashed fest: „In fact, the barebones packaging and low-fidelity recording of Black Antlers leads me to suspect that it is nothing but a glorified concert rehearsal captured on record. According to various sources, Coil have plans to re-record and re-mix this material, and will eventually give it an official release. Therefore, I should probably withhold final judgment on these songs. However, it’s hard not to notice the under-produced, impromptu nature of the music and vocals.“  Auch nach der neu abgemischten und leicht veränderten Wiederveröffentlichung als reguläre (Doppel-)CD im Jahr 2006 betonte ein Rezensent den „low key status“.

Das Album beginnt mit „The Gimp (Sometimes)“, das eine Überarbeitung eines Stücks ist, das Coil ursprünglich zu einem People Like Us-Album beigesteuert hatten. Zu an- und abschwellenden minimalistischen elektronischen Passagen spricht Balance Zeilen wie „Sometimes I hurt myself/Sometimes I hate myself“, die schon damals in all ihrer Offenheit beklemmend waren. Am Ende des Stücks hört man ihn eine leicht dissonante Melodie auf einem Eierschäler spielen. Überhaupt gelang es Coil in den letzten Jahren ihrer Existenz fast mühelos Elektronik und akustische Elemente zu verschmelzen. Das zentrale Stück des Albums ist sicherlich „Sex With Sun Ra (Part One-Saturnalia)“, eine Beschreibung einer (fiktiven) Begegnung mit dem großen Exzentriker: „Sun Ra was here in his element/He invited me back for a ride/I smiled, agreed, and we left for the place/That is full of the reasons for time and for space/He said he was leaving last tide“. Zu den reduzierten elektronischen Passagen kommt die von Tom Edwards gespielte Marimba hinzu. Die prophetische oder einfach nur sachlich korrekte Aussage „Most accidents occur at home“ lässt einen natürlich erschauern. Das an den alten Freund Marc Almond anspielende„Wraiths And Strays“ hieß ursprünglich „Radio Weston“ (wie auf der Ansage auf dem „Live In Porto“-Bootleg zu hören ist), weil Sleazy damals viele Sachen aus dem Radio aufnahm und verwendete. “Wraiths And Strays” basiert dann auch auf einem  Sample von King Of Woolworths. Dem weitgehend instrumentalen Stück, live in Paris aufgenommen (die CD-R enthielt eine Version aus Montreal), haftet etwas Mysteriöses, Unheimliches an und ist das vielleicht atmosphärischste Stück des Albums. Coils nur aus Gesang, Marimba und etwas dissonanter Elektronik am Ende bestehende Interpretation von „All The Pretty Little Horses“ ist verglichen mit Current 93s Version skelettierter und reduzierter. Die neue Version von „Teenage Lightning” setzt im Gegensatz zu der Ursprungsversion auf “Love’s Secret Domain” weniger auf Rhythmus und hat fast schon einen Folkcharakter. Etwas aus dem Rahmen fällt das treibende Titelstück, eine Coverversion eines Stücks von Bam Bam. Die drei Bonusstücke sind Remixe, Collagen, die Sleazy mit Danny Hyde abgemischt hat.

Trotz den angesprochenen Momenten des Unfertigen kann man vielleicht “Sex With Sun Ra” zitierend sagen: “I dream of colour music/And the intricacies of the machines that make it possible”. (MG)

Label: Dais Records