ENTEN HITTI: Mistiche Ribelli

Enten Hitti ist ein hierzulande noch wenig bekanntes Ensemble aus Mailand um die beiden Komponisten Pierangelo Pandiscia und Gino Ape, das in seinen neoklassischen Kompositionen das Vertrauen in das Spirituelle jenseits institutioneller Dogmen als einen stillen, unaufdringlichen Widerstand feiert. Auf dem neuen Album “Mistiche Ribelli”, auf dem einige unserer Leser sicher die Stimme Carmen d’Onofrios (Camerata Mediolanense) wiedererkennen, setzen die Musiker sich mit mystischen Texten und Überlieferungen aus unterschiedlichsten religiösen und kulturellen Kontexten, vom Sufismus über das Mahayana-Buddhismus bis hin zur christlichen Mystik und okzitanischen Poesie des Mittelalters auseinander. Was als eklektisches Patchwork scheitern könnte, entpuppt sich hier als Suche nach einem zeitlosen Kern: der Sehnsucht nach Wahrheit und einer leisen Form der Auflehnung gegen Entfremdung.

Der Opener “L’Uomo di Dio” zieht die einen unmittelbar in diesen Spannungsraum. D’Onofrios eindringliche Stimme trägt eine freie italienische Nachdichtung der Verse Rūmīs – meditativ, fast unbewegt zunächst, eingebettet in schwebende Klänge aus Gitarre, Streicherflächen und gläsernem Schlagwerk. Mit dem Einsetzen der Percussion weitet sich der Klang, der Text entfaltet seine Kraft: Der “Mensch Gottes” überschreitet, wenn mein Wörterbuch mich nicht täuscht, alle Gegensätze, ist “Meer ohne Ufer”, “über Glauben und Unglauben hinaus” – ein Bild von existenzieller Klarheit.

Ein zweites zentrales Thema des Albums wird mit “Mater Mantra” angesprochen: die weiblich-göttliche Dimension. D’Onofrios lyrischer Sopran verleiht dem Text über eine universale Muttergestalt – sanft, fordernd, widersprüchlich – eine fragile Kraft. Die mehrfach geschichtete Instrumentierung aus Blech, Streicher- und Holztönen wirkt pastoral, gleichwohl keineswegs süßlich und changiert gekonnt zwischen Andacht und Aufbegehren.
Spätestens bei “Carne della stessa carne” wird deutlich, dass es Enten Hitti nicht um Weltflucht geht, sondern um eine aktive Auseinandersetzung mit schwer fassbarem. Hier treffen Verse aus dem buddhistischen Herzsutra auf Navajo-Dichtung – eindringlich gesungen von einer tiefen Männerstimme, begleitet von Streichern, deren Dichte physisch wirkt. Die wiederholten Rezitationen des Mantras “Gate Gate Paragate Parasamgate” betonen das Motiv der Leere, des radikalen Loslassens und setzen es in einen nur scheinbaren Kontrast zur intensiven Präsenz der Musik selbst.

“Evren Mantra”, mit Kompositionseinflüssen von Theo Allegretti, lässt in seiner klaviergetragenen, fast liedhaften Struktur Momente poetischer Melancholie aufscheinen. Es ist ein intensives, kurz aufglühendes Stück, mit schneller, drängender Stimme vorgetragen – weniger in religiöser Verklärung, als in einem zutiefst gegenwärtigen Erstaunen über Liebe und Schmerz. Von da an führt das Album durch eine Folge von Stücken, die sich in ihrer emotionalen Tiefe und musikalischen Handschrift zwar unterscheiden, aber stets einer gemeinsamen Idee folgen: dass aus Verletzlichkeit, Verlust, sogar Wahnsinn – wie im okzitanischen “Le Consolazioni delle Ninfee” – eine Form innerer Klarheit entstehen kann. Carmen D’Onofrios Gesang wirkt hier besonders reduziert und nah, der Klangraum dagegen weit und lichtdurchlässig.

“Mantra del Soffio” bringt diese Dualität von Intimität und Größe erneut auf den Punkt. Inspiriert von Texten aus den Essener-Schriftrollen, entfaltet sich hier ein bewegtes, rhythmisch aufgeladenes Geflecht aus Pianofiguren, Streichern und Gesang, das in der sich steigernden Bitte “Chiamami in te – Ruf mich in dich hinein” gipfelt. Wieder geht es um Nähe, um Verschmelzung. Enten Hitti arbeiten seit Jahrzehnten an der Schnittstelle von Ritual, Musik und Performance. Ihre Klangsprache greift auf traditionelle Instrumente zurück – Salterio, Saiten, Naturmaterialien –, setzt aber auch auf elektronische Texturen. Was sie interessiert, ist nicht das Authentische im musealen Sinn, sondern die Korrespondenz: Wenn das Rauschen einer digitalen Fläche die gleiche Wirkung entfaltet wie ein Flötenhauch aus Bambus, so erfährt man auf ihrer Webseite, dann ist darin für Enten Hitti auch der gleiche Gehalt auffindbar. Diese Offenheit zeigt sich in vielen der Stücke, etwa im fast trancehaften “Mantra delle Ombre”, in dem sich Sprache und Klang zu einer fortwährenden Spiegelung von “ombre e parole – Schatten und Worte” verdichten.

Eine besondere Rolle nimmt “Our Needs for Consolation” ein: Gesungen von Dorothy Moscowitz Falaski, bekannt aus der New Yorker Avantgarde, erinnert die Nummer mit ihrer varietéartigen, exaltierten Stimmarbeit, filmischer Streicherführung und englischem Text inklusive William Blake-Anspielung an eine Theatralik, wie sie Little Annie, Marc Almond und Ernesto Tomasini zusammen auf die Bühne bringen könnten. Der Text selbst – eine Mischung aus Alltagsbeobachtung und existenzieller Miniatur – formuliert, wie sehr auch das scheinbar Banale trösten kann. Eine Blüte. Eine Geste. Ein Film von Truffaut. Eine paradoxe Mischung aus Ironie und Echtheit, in der sich Schmerz und Trost berühren.

Das abschließende “Mantra delle Onde” schließt den Kreis: Eine sanfte, verwehte Komposition, in der sich Gesang und Rezitation überlagern, bis sie sich im Wind zu verlieren scheinen. Die “geheimen Lieder des Wassers”, von denen hier gesprochen wird, klingen wie ein Echo auf das ganze Album, das trotz einer Vielzahl an Quellen, Sprachen und musikalischer Mittel einen inneren Zusammenhalt entfaltet. “Mistiche Ribelli” ist ein Album, das weder demonstrativ archaisch noch betont zeitgemäß wirken will. Stattdessen spricht es von einer Kraft, die sich in der Stille zeigt und in der Bereitschaft, zuzuhören. (U.S.)