ERNESTO TOMASINI – Interview

Ernesto Tomasini dürfte einigen Lesern dieser Publikation durch seinen Gesang auf dem vor knapp zwei Jahren auf Durtro veröffentlichten Album „Digital Angel“ von Othon aufgefallen sein, auf dem die mehrere Oktaven umfassende Stimme des gebürtigen Italieners, der seit Mitte der 90er Jahre in London lebt, einer der Höhepunkte war. Ein Jahr zuvor hatte Tomasini bereits zusammen mit Fabrizio Modonese Palumbo  (Larsen) ein experimentelles Album aufgenommen, auf dem sie u.a. Judas Priests „Breaking the Law“ coverten. Auch auf zwei CDs aus Andrew Liles’ „Vortex Vault“-Serie ist er zu hören. Allerdings macht die Musik bislang nur einen kleinen Teil der Aktivitäten Tomasinis aus. Ursrpünglich auf den Kabarettbühnen Italiens zuhause, absolvierte er später in London ein Schauspielstudium an der Arts Educational Drama School und spielte danach sowohl in experimentellen Theaterstücken auf Londons Bühnen als auch im West End („Chicago-the musical“). In den vergangenen Jahren kreierte er zwei eigene Einpersonenstücke: „True or Falsetto? A Secret History of the Castrati!“ und „Veiled Screen: A Secret History of Hollywood“, in dem es um die Darstellung schwuler Charaktere in Hollywoodfilmen ging. Wer einen Eindruck von Tomasinis beeindruckender Bühnenpräsenz bekommen möchte, der sollte sich Videos einiger seiner Auftritte anschauen, die verdeutlichen, dass er einer der ergreifendsten und originellsten Sänger und Performer der letzten Jahre ist.

Was kannst du zu deinem Album “Canes Venatici” zusammen mit Fabrizio Modonese Palumbo sagen? Wie hat es begonnen und was für ein Konzept steckt dahinter?

Das Angebot einer Zusammenarbeit kam von Fabrizio. Wir wurden zu so guten Freunden, dass es unvermeidbar schien, unsere Freundschaft in das Musikmachen einfließen zu lassen. Wir sprachen während einer Tour durch Griechenland über das Album und dann arbeiteten wir jeweils getrennt in Turin und London daran – aber dank der Magie der Technologie auf sehr enge Weise. Es war sehr organisch und hat großen Spaß gemacht. Jedes Stück steht für sich allein und thematisiert verschiedene Aspekte: Wissenschaft gegen Aberglaube, die Liebe nach italienischer Art, Kindheitserinnerungen. Es diente als Basis für das, was wir live machen: ein elektronisches Kabarett des Unterbewussten! Diese Auftritte sind als innovativ gepriesen worden und –zusammen mit Paul Beauchamp von Blind Cave Salamander und Trevor von Northgate, die sich später dazu gesellt haben –  sind wir ziemlich begeistert.

Wer von euch hatte die Idee Judas Priests „Breaking the law” zu covern und kannst du kurz sagen, was die Idee dahinter war?

Das war Fabrizios Idee. Er wollte eine langsame, schleppende, fast monotone Coverversion um die Depression, die dem Text innewohnte, hervorzubringen. Mein Beitrag war unerwartet, aber Fabrizio mochte ihn sehr und wir legten los. Ich spielte auf jede nur denkbare Weise gegen das Stück an: Es war ein Lied über die Arbeiterklasse, die den Status Quo beklagte. Ich sang das Stück in einem feinen britischen Akzent; ich sang es als konservativer Parlamentarier, den eine fortschrittliche Regierung (in meinen Träumen geschehen solche Dinge!) zum Rücktritt zwingt. Ich sang es recht tief um einen Kontrast zu Rob Halfords hoher Stimme zu schaffen. Ich ging auch jedes Mal „hoch“, wenn die Musik „runter“ ging.  Es wurde zu einer Satire. Ich denke, das Beispiel gibt dir einen guten Eindruck davon, wie wir arbeiten und warum ich das aufregend finde: da sind diese zwei total verschiedenen Welten, die zusammenprallen und sich in völlig unerwarteten Richtungen entzünden.

Kannst du uns etwas zu „Digital Angel” sagen? Warst du von Anfang an am Enststehungsprozess beteiligt?

Als ich Othon traf, hatte er schon „Digital Angel I: The Union“ geschrieben, was der erste Teil der „Digital Angel-Trilogie“ auf dem Album ist. Ich glaube, es war seine erste Komposition für eine Stimme, für einen Sopran. Nachdem wir uns kennen gelernt hatten, passte er es meinen etwas bilderstürmerischen Ansichten an und erweiterte das Spektrum. Kurz danach komponierte er die anderen zwei Teile für meine Stimme: „Digital Angel II: Metalipsis“ und „Digital Angel III: Brave New World“. Jedes andere seiner Stücke, die ich singe, hat er extra für mich geschrieben.  Und ich bin auch der Glückliche, der jedes Stück hört, wenn es noch im Entstehungsprozess ist. Ich sitze da mit offenem Mund, verblüfft wie ein Kind in einem Spielzeugladen und ich fühle mich in andere Sphären versetzt. Das heißt: Ja, ich war vom ersten Tag an dabei, aber ich möchte betonen, dass ich in meiner Zusammenarbeit mit Othon lediglich der Sänger bin: Ihm gebührt all die Anerkennung.

Während des letzten Jahres hatte man den Eindruck,  dass wenn die Mainstreampresse über Künstler wie Antony, Baby Dee, Rufus Wainwright etc. schrieb, sie als Exzentriker wahrgenommen wurden. Die Reaktionen waren positiv, aber man hatte das Gefühl, dass die Journalisten zwischen den Zeilen den Eindruck aufkommen ließen, dass sie als Abweichung vom heterosexuellen Mainstream betrachtet und nur als Ausnahme von der Regel akzeptiert wurden. Hattest du schon einmal den Eindruck, dass dir etwas Ähnliches widerfahren ist?

Aber ich bin eine Abweichung vom heterosexuellen Mainstream; sollten sie mich also als solche wahrnehmen, haben sie Recht. Ich weiche auch vom homosexuellen, transsexuellen und transgender Mainstream ab (gibt es noch irgendeinen anderen Mainstream? Wenn es noch einen gibt, würde ich auch gerne von ihm abweichen). Ich hoffe, das wird deutlich.

In seiner Autobiographie schreibt  Marc Almond, dass er es „ablehnt, lediglich in sexueller Hinsicht kategorisiert zu werden”. Hast du eine ähnliche Einstellung?

Ich war als Kabarettkünstler politisch ziemlich aktiv, als ich in den 80ern anfing. Meine Acts waren ziemlich „queer”, links und voll ins Gesicht. Zur damaligen Zeit war ich in Italien der einzige, der so etwas machte. Ich war ein Teenager und hatte das Gefühl, dass es nötig war. Jetzt kümmert es mich nicht mehr wirklich. Ich glaube wirklich, dass es so viele Sexualitäten wie es Gesichter im Westen gibt (das gilt auf jeden Fall für Westlondon) und manchmal finde ich Labels nützlich, aber letztlich sind sie nie passend. Ich bin übrigens kein Homosexueller (ich will doch nicht den weiblichen Teeniemarkt verschrecken!).

Kategorisierungen scheinen Musiker oft zu nerven. Ich muss aber dennoch fragen: Fühlst du dich wohler damit, „Maria Callas, die von Satan besessen ist” oder „Der neue Farinelli” zu sein – um zu zitieren, was einige über dich gesagt haben?

Journalisten müssen dem Publikum Referenzpunkte geben. Ich bin immer der neue Kastrat oder der neue Klaus Nomi (aber wer bin ich, wenn ich Bass singe?) oder – öfter – Maria Callas (sie muss die einzige Opernsängerin sein, die sie kennen) mit jemand anderem kombiniert (und die Möglichkeiten sind schier endlos); oder ich bin –wie im Falle der von dir genannten Satanssache- ein Sänger in einer extremen Situation (ein Sopran auf Feuer oder ein Bariton auf Helium). Ich glaube, mir gefällt „Sarah Brightman auf Ketamin“ am besten: Da kann man nichts gegen sagen, oder? Sie sind alle amüsant, aber nicht mehr. Alles in allem könnten mir Rezensionen nicht gleichgültiger sein. Nach 25 Jahren im Geschäft habe ich alles und das Gegenteil davon gelesen und ich weiß, dass die Meinung eines Kritikers, ob nun gut oder schlecht, nichts an meinem Tag ändern wird, ganz zu schweigen an meinem Leben. Wenn die Rezensionen gut sind, benutzt sie dein Presseagent zu Werbezwecken, wenn sie schlecht sind, wirft er sie weg. Punkt. Ich habe Künstler gesehen, die sowohl durch gute als auch durch schlechte Kritiken beschädigt worden sind. Ich möchte einfach nur weitermachen.

Ich hoffe, du siehst darüber hinweg, wenn ich sage, dass ich nicht bemerkt habe, dass du in „Children of Men” mitspielst. Wie ist es dazu gekommen und welche Rolle spielen solche Rollen (verzeih mir das Wortspiel) in deinem Leben? Ich habe auch gehört, dass du eine kleine Rolle in „Forget me not” spielst.

Ganz allgemein spielen sie die wichtige Rolle für meinen täglichen Belugakaviar zu zahlen! Im Falle von „Children of Men“ war es aber anders. Es war etwas wirklich Besonderes mit dem Regisseur Alfonso Cuaròn zusammenzuarbeiten. Er ist ein leidenschaftlicher Künstler und ein Intellektueller, aber einer, der der die Zügel in der Hand hält. Er hat einen bösen Sinn für Humor; etwas, das für mich unerlässlich ist und er schätzt Vivaldis weniger bekannte Opern sehr – wie könnte ich ihn also nicht mögen?

Siehst du einen Unterscheid zwischen Theater/Performance/Musik oder würdest du sagen, dass du all dies in deiner Person verbindest?

Es gibt ziemlich große Unterschiede zwischen den verschiedenen Aspekten der Kunst und es gibt noch mehr Stilunterschiede innerhalb der einzelnen Genres. Mein ganzes Leben hindurch habe ich die feste Absicht gehabt, dass ich praktisch jeden Aspekt der Profession (sogar Arbeit mit Puppen und Masken) angehen will, deswegen ist das Auswählen und Mischen jetzt meine zweite Natur und ein Merkmal meiner eigenen Stücke. Ich probiere permanent neue Dinge aus, die mich, ganz unvermeidlich, nach vorne bringen. Wenn man darüber nachdenkt, bin ich erst seit drei Jahren im Musikgeschäft. Davor hatte ich nie ein Lied außerhalb einer Bühnenshow gesungen. Ich bin der älteste Neue!

Wenn du schreibst, dass du dir nur Musik anhörst, die vor 1964 geschrieben worden ist, ist das etwas ironisch gemeint?

Bis in meine frühen 20er war das absolut wahr. Ich hatte die bewusste, freie Entscheidung getroffen mir nichts „Modernes“ anzuhören. Es war die ultimative Rebellion. Meine Freunde standen auf Pink Floyd, Einstürzende Neubauten, Siouxsie, aber sie wussten, dass sie bei mir verkratzte, frühe Aufnahmen ertragen mussten, die bis ins Jahr 1895 zurückreichten: Ragtime, Erik Satie, Gertrude Lawrence, Giancarlo Menotti, Anthony Newley. Es war später, dass ich mich dazu entschloss, dass die Zeit gekommen war, mich anderen Genres gegenüber zu öffnen und sogar in Betracht zog, elektronische Musik zu akzeptieren. Es war großartig, denn als ich anfing Musik zu hören, die sozusagen nach 1964 geschrieben worden war, hatte ich starke Fundamente in der Vergangenheit und ich hatte den Eindruck, dass ich dadurch die Entwicklungen der Musik des späten 20. Jahrhunderts eher schätzen konnte als das sonst möglich gewesen wäre.

Das hängt eng mit der letzten Frage zusammen: Hältst du dich für einen Anachronismus?

Im alltäglichen Leben muss ich das hundertprozentig mit ja antworten. Ich gehe herum und habe das Gefühl, dass ich nichts mit meinen Zeitgenossen zu tun habe. Ich fühle mich wie ein Vampir, der in moderner Kleidung herumläuft, dessen Herz aber 300 Jahre alt ist. Politisch gesehen lebe ich 300 Jahre in der Zukunft. Das ist der Grund, warum ich auf der Bühne aktuelle Aspekte in Frage stelle und ich problematische Themen wähle. Mein letztes Stück handelte davon, dass ich Leuten die Vergangenheit zeige, um etwas über die Gegenwart zu sagen und Richtungen für die Zukunft aufzuzeigen. Ich gebe dem Publikum die Möglichkeit sich zu entspannen und Spaß zu haben um sie dann schließlich ins Gesicht zu schlagen. Bislang waren meine Shows (als Performer/Autor oder Produzent) eine durchgehende Lachkavalkade mit einem vernichtenden Finale, bei dem – wie man sagt – kein Auge trocken bleibt. Wenn ich im realen Leben kein „Anachronismus“ wäre, glaube ich nicht, dass ich dazu imstande wäre.

Lass uns zu etwas profaneren Fragen kommen: Habt du ein Label für deine nächsten Alben gefunden?

Ich habe vier Alben aufgenommen und sie sollten 2010 das Tageslicht erblicken.Drück mir die Daumen! Das ist alles, was ich momentan dazu sagen kann.

Wird das „Impermanence“- Album anders als „Digital Angel“ sein? Was werden deines Erachtens die größten Unterschiede zwischen den beiden Alben sein?

Ich würde sagen, dass das neue Album ein beträchtlicher Schritt nach vorne ist. Wegen des Erfolges von „Digital Angel“ ist das Budget dieses Mal höher und die Stücke sind stärker orchestriert. Die Songauswahl ist unterschiedlicher, aber auch kompakter. Es gibt lyrischere Stücke auf dem Album, wobei es gleichzeitig immer noch eine Reihe experimenteller Tracks geben wird. „Impermanence“ behält eine Melancholie, aber der Romantizismus ist nicht so düster wie auf „Digital Angel“.

Auf youtube gibt es viele Liveaufnahmen mit Othon in Manchester, bei denen du noch unbekannte Songs („Last Night I Paid to Close My Eyes“, „Skylights“, „At Night“ etc.) spielst.  Planst du die noch zu veröffentlichen?

„At Night” und  „Last Night I Paid to Close My Eyes” werden auf dem „Impermanence”- Album sein. „Skylights“ wird irgendwann veröffentlicht werden. Da bin ich mir sicher. Othon hat genug Material um mindestens fünf neue Alben zu machen – gib ihm nur die Zeit und das nötige Geld!!!

(M.G. & U.S.; Fotos: Hector De Gregorio (1 und 2), Jamie McLeod, Rafael Perez Evans)

http://www.ernestotomasini.com/

http://www.myspace.com/othonandtomasini