You Killed Me First: The Cinema of Transgression

Es wird immer noch gelegentlich behauptet, die 80er wären generell verklemmter und weniger freizügig gewesen als die 70er. Sicher mag das in vielen Fällen auch so gewesen sein, und warum sollte das in einer Kultur, die in vielerlei Hinsicht nach den Gesetzmäßigkeiten von Konjunkturzyklen funktioniert, auch verwundern. Relevanter ist die Beobachtung, dass das Enthemmte, Dionysische, das man mit vielen Phänomenen der Jahre um 1970 in Verbindung bringt, ein Jahrzehnt später zu einem Großteil in die Subkulturen abgewandert ist, und dort weniger die Liebe und den Frieden feiert, sondern vielmehr die pathologischen und dystopischen Aspekte beschwört, die immer schon als Kehrseite popkultureller Libertinage existierten, in zahllosen (Rand-)Phänomenen vom Giallo über die dunkle Seite der Factory bis zum Protopunk. Im Zeitalter von Postpunk und Industrial hat Dionysos etwas verloren, dass man im aller weitesten Sinne eine Art Unschuld nennen könnte, auf der Strecke jedoch blieb er keineswegs. Eines dieser subkulturellen Millieus entstand in den frühen 1980ern in der New Yorker Lower East Side und ist allgemein unter dem von Schauspieler und Regisseur Nick Zedd geprägten Schlagwort „Cinema of Transgression“ bekannt. Das Berliner KW Institute for Contemporary Art widmet dem Kino der Überschreitung derzeit eine Werkschau von achtzehn Filmen.

Was Künstler wie Zedd, Richard Kern, Tessa Hughes-Freeland, Casandra Stark und andere mit zum Teil gestohlenen Kameras auf schlichten (meist monochromen) Super8-Film bannten, rangiert unter der etwas abgedroschenen Bezeichnung Underground-Film, was in ihrem Fall sowohl auf einen Bruch mit gängigen Moden als auch auf ihre bevorzugten Sujets gemünzt ist. Wie die meisten Sezzessionsbewegungen zelebrierten auch die Künstler um Kern eine Abgrenzung gegenüber akademischen Konventionen. In ihrer Radikalität war sie den Aufbruchsparolen des Futurismus ebenbürtig: „We openly renounce and reject the entrenched academic snobbery which erected a monument to lazyness known as „structuralism“ and proceeded to look out those film makers who posessed the vision to see through this charade“, schreibt Nick Zedd in seinem „Cinema of Transgression Manifesto“, das zunächst ohne Verfasserangabe im Underground Film Bulletin erschienen ist. Und selbstredend ging es nicht nur um ästhetische Fragen, denn die beteiligten Filmer wollten unvermittelt auf die Situation in New York reagieren, die von enormen sozialen Problemen und zunehmender Angst geprägt war. Der seinerzeit grassierende HIV-Virus war eines der Themen, die man aufgriff, und die im etablierteren Experimentalkino bis dato unterrepräsentiert waren. Während man gängigen Traditionslinien des Kunstfilms eine Absage erteilte, ist eine Nähe zu zeitgenössischen Musikbewegungen offenkundig. Im New Yorker Kontext beerbte man gewissermaßen die gerade im Niedergang begriffene No Wave-Welle und avancierte zu einem Parallelphänomen gerade entstehender Bands wie Swans oder Sonic Youth, deren „Death Vally 69“-Video zu Kerns bekanntesten Arbeiten zählt und u.a. in der Berliner Ausstellung zu sehen ist. Aus dem Umfeld von Hughes-Freeland gingen wiederum Musikprojekte wie Backworld hervor. Viele der meist zwischen zehn und dreißig Minuten langen Filme erscheinen wie längere Musikclips, oder zumindest spielt Musik eine große Rolle und füllt oft die ganze Tonspur aus. Lydia Lunch wirkt in Filmen Kerns mit, zu den Soundtrack-Komponisten zählt Jim Thirlwell a.k.a. Foetus und in einem Fall sogar SPK, deren auf Sprachsamples und exzessive Wiederholungsfiguren gebaute Aufnahmen dieser Zeit typisch für die im Cinema of Transgression verwendete Musik sind. Eine thematische Nähe zum Industrial besteht ohnehin.

Vom Sujet her dreht sich nahezu alles um psychische Extremzustände und Abgründe von Sex und Gewalt, und dass ein Cinema of Transgression genanntes Phänomen durch und durch plakativ ist, überrascht wohl niemanden. Die Filmer wollten provozieren, schockieren und konfrontieren und sahen sich im direkten Kontrast zu den etablierten Werten eines Amerika nach dem conservative turn im Zuge der Präsidentschaft Reagans, der für diese Art Kino eine ähnliche Rolle spielte wie Margarete Thatcher für Crass und den britischen Anarcho Punk. Traditionellen familiären Werten geht es in Kerns farbenprächtigem „You Killed Me First“, nach dem die Gesamtschau benannt ist, nicht nur durch Gewalt an den Kragen, sondern auch durch einen Humor, der an Hershell Gordon Lewis erinnert. „We propose that a sense of humor is an essential element disgarded by the doddering academics and further, that any film which doesn’t shock isn’t worth looking at“, heißt es bei Zedd. Tessa Hughes-Freelands „Nymphomania“, der jüngste aber auch zugleich am ehesten hippieske Film der Auswahl, zeigt untermalt von Debussy das anfangs neckische, später dann gewaltsame Liebesspiel zwischen einer Nymphe und einem Faun, und ist über weite Strecken sogar auf recht konventionelle Art komisch, ebenso das groteske Mienenspiel in Kerns „Stray Dogs“. Doch auch im exzessiven Gebrauch von Splattereffekten, in der plakativen Darstellung sexueller Abgründe und im schamlos bejahten Dilettantismus der Arbeiten steckt stets dieses humoreske Moment, eine Komik der Übertreibung, die beinahe zwangsläufig jeden Zuschauer zum Lachen bringen muss, der sich nicht aus Angst, Scham, Ekel oder moralischer Brüskiertheit abwendet.

Während einige Filme dabei eine groteske Heiterkeit versprühen, die durchaus so etwas wie comic relief in die Szenarien bringt, sind andere verstörend genug, dass auch dem eingeweihten Zuschauer das Lachen im Hals stecken bleibt. Bei Kerns „Fingered“, einem Road Movie mit Lydia Lunch, ist es nicht nur die hemmungslose (und sehr real wirkende) Gewalt, die verstört – es ist einer der wenigen Filme der Auswahl, die statt eines dominanten Musicscore realistische Dialoge aufweisen, und wie nahezu alle gezeigten Arbeiten verfügt er über einen simplen und durchaus schlüssigen Plot. „Rat Trap“ von Tessa Hugh-Freeland und Tommy Turner verstört durch den grafischen Einsatz toter Tierkörper und die lärmigen Gitarrenfeedbacks von Jimi Hendrix. „Where Evil Dwells“ (in dem der Maler Joe Coleman zu sehen ist) dagegen durch übertriebenen Gothic-Kitsch und eine äußerst unruhige Bildsprache. Der Anspruch, den die Künstler mit ihren gewalttätigen, sexualisierten Stoffen verfolgten, liest sich fast schon sympathisch naiv: „We propose transformation through transgression – to convert, transfigure and transmute into a higher plane of existence in order to approach freedom in a world full of unknowing slaves“. Auch die experimentelle Ästhetik unmittelbar nach Punk und Industrial hatte ihre Utopien – ihre Postulate wirken bis heute und sind auch in ihrem fast musealen Status nach wie vor starke Gesten des Widerspruchs. Die alles durchdringende Governmentalität im Geiste der Reagans dieser Welt konnten sie freilich nicht außer Kraft setzen.

„You Killed Me First“ ist bis 09.04.2012 auf vier Etagen des KW Institute of Contemporary Art, Auguststraße 69,10117 Berlin zu sehen, in den nächsten Wochen gibt es Lesungen und Gesprächsrunden mit Kern, Zedd, Hughes-Freeland und Lunch.

KW Institute of Contemporary Art

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