What do you Know about a Good Father? Interview mit Joke Lanz von Sudden Infant

In der experimentellen Musik und im Post-Industrial sind Projekte üblicher als Bands, was man mit der Distanz zum herkömmlichen Rock’n'Roll-Lifestyle ebenso erklären könnte wie mit dem starken Konzeptcharakter vieler Arbeiten, bei denen meist die Ideen einer einzelnen Person im Zentrum stehen. Obwohl Sudden Infant eine sehr individuelle Sicht auf die Welt zum Ausdruck bringt und nicht selten persönliche Erfahrungen verarbeitet, entschied sich Betreiber Joke Lanz im vergangenen Jahr, das Einmannprojekt in ein Trio umzuwandeln, bei dem ein an Jazz und Rock geschultes Schlagzeug und ein Kontrabass mit dem altbekannten elektronischen Lärm zu einer Einheit fusionieren, die man als organisch bezeichnen könnte, wäre der Begriff nicht so verbraucht. In vielem ist sich der Musiker jedoch entschieden treu geblieben: Kämpferische Shouts, Stakkato-Rhythmen und der Drang, die Geheimnisse des Erwachsenwerdens, der Geschlechter und der Betriebsblindheiten unseres Alltags zu ergründen – all dies ist bei Sudden Infant so aktuell wie eh und je, und nach wie vor hebt sich seine Selbstoffenbarung angenehm ab von Standards einer banalen Geständniskultur vor der Kulisse einer vermeindlich heilen Welt. Anlässlich des neuen Albums sprach Joke mit uns über Neues und Beständiges in der musikalischen und außermusikalischen Welt.

Sudden Infant ist nun eine Band. Wenn man bedenkt, wie oft man diesen Satz derzeit liest, könnte man meinen, dass für dich gerade ein ganz neuer Lebensabschnitt beginnt. Ist der Einschnitt wirklich so groß, oder siehst du die Veränderung eher als Erweiterung des Bestehenden?

Ich würde sagen es ist beides. Ich habe dazumal 1986 mit einer Punk/Hardcore-Band angefangen, Musik zu machen, und irgendwie schliesst sich nun der Kreis wieder. Der elektronische Sound, den ich bisher fast ausschließlich alleine mittels Sampling kreiert hatte, ist nun lebendigem Material gewichen, wurde also durch Bass und Schlagzeug ersetzt. Einerseits eine Erweiterung, andererseits auch ein neuer Abschnitt nach 25 Jahren. Der plötzliche Säugling ist nun etwas älter geworden.

Was gab den eigentlichen Anstoß dazu – die Begegnung mit den beiden
Musikern, das Gefühl, dass etwas zum Abschluss gekommen ist, oder eher
die Erkenntnis, dass Joke Lanz nicht immer deckungsgleich ist mit Sudden
Infant?

Christian Weber kenne ich schon sehr lange, wir spielen seit vielen Jahren im Bereich der Improvisierten Musik zusammen. Er war auch früher bereits bei Sudden Infant mit dabei für die Aufnahmen der beiden CDs  “Earwash” (2003 SSSM Japan) und “Psychotic Einzelkind” (2008 Blossoming Noise USA). Christian ist einer meiner liebsten Freunde und ein genialer Bassist. Alexandre Babel hab ich zum ersten Mal in Riga auf dem Sound Forest Festival 2010 gesehen, wo er ein Solo Schlagzeug-Set gespielt hat. Das hat mich im wahrsten Sinne des Wortes weggeblasen, das war unglaublich toll. Die Lust und die Idee für die Transformation von Sudden Infant in eine Band-Formation hatte ich eigentlich schon länger im Hinterkopf. Ich musste einfach noch warten bis die Zeit und die Umstände passten und dies ist nun geschehen und Christian und Alexandre sind mit viel Freude und ihren tollen musikalischen Ideen mit dabei.

Gab es in der Vergangenheit Umbrüche, die für dich ähnlich stark ins Gewicht gefallen sind? Gab es von deiner Seite aus je Überlegungen einen anderen Projektnamen zu wählen?

Ich habe in der Vergangenheit immer wieder gerne mit anderen Musikern gearbeitet. Ich spiele heute noch regelmässig, vor allem als Turntablist, in Duos, Trios und freien Gruppen. Das Sudden Infant-Universum hat sich jedoch ganz klar, wie aus einem Urknall, mit der Geburt meines Sohnes Céleste ergeben. Ich war ja selber noch sehr jung und wollte nicht erwachsen werden. Und plötzlich trage ich zusammen mit meiner damaligen Freundin die Verantwortung für ein neues Menschenleben. Dies hat mich und meine Musik sehr geprägt. Sudden Infant hat mich seither auf meinem Weg begleitet und natürlich auch verschiedenste Veränderungen durchgemacht. Genauso wie im richtigen Leben. Das musikalische Projekt ist zum Lebensentwurf geworden. Ein anderen Namen wollte ich eigentlich nie wählen.

Bei Sudden Infant dreht sich vieles um sehr persönliche Themen aus deiner Biografie. Hast du das Gefühl, dass das jetzt einen anderen Stellenwert bekommt, oder werden die Inhalte nach wie vor ganz dein Metier bleiben?

Natürlich werde ich weiterhin einen großen Teil der Inhalte beisteuern und textlich vor allem die Abgründe, Seelenzustände, Freuden, Ängste und Schmerzen der Menschen beschreiben. Während meiner vielen Reisen beobachte ich sehr gerne Situationen, kleine Begebenheiten, Gesichtsausdrücke, Körpersprachen usw. Ich mache mir dann oft Notizen, Stichworte, Assoziationsketten. Daraus ergeben sich Verse oder kinderähnliche Reime, sehr einfach und direkt. Ich möchte die Texte einfach halten und die Geschichten nicht überzeichnen, sondern nur andeuten, weil sich für mich vieles im Leben auf einer intuitiven und emotionalen Ebene abspielt und mit Worten eigentlich gar nicht vollends erklärbar ist. Ich mag Aufzählungen, Wiederholungen und kleine Stories aus einer irrationalen Kinder- und Geisterwelt, die dann plötzlich explodieren können, textlich wie musikalisch.

Du arbeitest für deine Soloarbeiten in deinem Heimstudio, gehst für andere Arbeiten aber auch in reguläre Studios. Wie kann man sich den Aufnahmeprozess des letzten Albums vorstellen und wie unterscheidet sich die Herangehensweise von deinen Soloarbeiten?

Für das neue Album haben wir ein Studio in Polen ausgewählt, weil wir unbedingt mit Roli Mosimann (ex-Swans) zusammen arbeiten wollten. Die meisten Stücke waren von mir bereits geschrieben und ich hatte sie auch schon einige Male Solo auf der Bühne gespielt. Wir haben die Stücke nun für Bass und Schlagzeug angepasst und zum Teil auch stark geändert. Während der vier Tage im Studio hatten wir auch Zeit neues auszuprobieren, und daraus sind dann zwei komplett neue Tracks entstanden (“Hold Me”, “Endless Night”). Wir sind dabei alle gleichberechtigt und es macht unheimlich viel Spass mit diesen beiden Ausnahmemusikern neues Material zu entwickeln. Roli Mosimann hat dann mit seiner ganzen Erfahrung als Produzent und Soundmagier den Rest dazugegeben.

Dein neues Album trägt den Titel “Wölfli’s Nightmare”, im gleichnamigen Song geht es um die Situation von Kindern in der Dritten Welt – “ten children every day die of diarrhoe” heißt es u.a. Denkst du, dass jemand wie Adolf Wölfli nötig wäre, um das Bizarre des Alltags gerade in Kriesengebieten deutlicher zu machen?

Eine interessante Frage! Ja, ich denke die Menschen in der Ersten Welt sitzen in einem geschützten, sicheren Nest, gehen wie selbstverständlich durch ihren geregelten Alltag. Die meisten von uns können sich auf einer rationalen Gefühlsebene überhaupt nicht vorstellen, was es heisst in der Dritten Welt zu leben, Tag für Tag um seine Existenz zu kämpfen und zwar mit dem nackten Leben. Die Bilder aus dem Fernsehen und dem Internet wirken abstrakt, es betrifft uns nicht, denn diese Bilder sind ja weit weg und diese Menschen stehen uns nicht nahe. Die Dekadenz der Ersten Welt, das Jammern auf hohem Niveau, das Streben nach immer mehr Wohlstand und Luxus, kann eigentlich gegenüber dem Elend und dem grenzenlosen Leid der Dritten Welt und der Kriegsgebiete in keiner Weise gerechtfertigt werden. Die Auseinandersetzung auf einer irrationalen oder sogar surrealen Ebene ist diesbezüglich dringend notwendig. Politiker und Wirtschaftsbosse werden diese Arbeit nicht leisten können. Also liegt es an den Künstlern, Dichtern, Musikern, aber auch an den normalen Menschen, sich über rationale Denkmuster hinwegzusetzen und wenn nötig dem kreativen Wahnsinn freien Lauf zu lassen.

Gibt es für dich einen spezielleren Bezug zu dem Künstler, der dieses Jahr 150 geworden wäre?

Ich habe Adolf Wölfli Mitte der 80er Jahre entdeckt und war von seinem immensen Werk, welches er als Insasse einer Psychiatrischen Klinik erschaffen hat, fasziniert. Die Titelwahl des Albums war eher zufällig. Ich wusste nicht mal, dass dieses Jahr sein 150jähriges Jubiläum ist. Und dann wurde ich noch für ein Theaterstück in Bern angefragt, ob ich den Wölfli spielen könnte. Irgendwie kamen die Geister alle zu mir.Väter und Söhne kehren in deiner Musik immer wieder, auch im neuen Album geht es z.B. um die Frage, was einen (guten) Vater ausmacht. Dabei kommt dem väterlichen und dem kindlichen Blickwinkel stets der gleiche Stellenwert zu, und mit der Zeit scheinen die damit verbundenen Fragen eine Einheit zu bilden. Ist das beabsichtigt, oder ergibt es sich automatisch aus deinen Interessen?

In jedem Mann steckt auch ein Kind. Also in jedem Vater auch ein Sohn. Ich habe meinen Vater früh verloren und bin dann später selber Vater geworden. Als Einzelkind war das Fehlen einer Vaterfigur nicht einfach für mich, vor allem während meiner Teenagerjahre. Da hat man schon mal das Bedürfnis, dem Vater ein paar Fragen zu stellen. Dies hat mich bis zu einem gewissen Grad geprägt. Heute habe ich mit meinem Sohn eine sehr freundschaftliche Beziehung, also wie zwei gute Freunde. Da lösen sich die Grenzen zwischen Eltern und Kind völlig auf.

In dem stark auf Saul Williams referierenden Stück “Father” heißt es, dass Väter auch etwas Mütterliches haben sollten. Denkst du, dass die immer mal wieder aufflammenden Gender-Debatten einen guten Schritt darstellen, oder erscheint dir die ideologisierte Angestrengtheit in den unterschiedlichsten Fraktionen eher als Hindernis?

Es kann nicht genug solcher Gender-Debatten geben, denn wir müssen alle ganz dringend unser verkrustetes Bild von Männlein und Weiblein überdenken.

Welche Rolle spielt Humor für dich beim Entstehen der Musik und bei Auftritten?

Humor ist die Gegenstimme zur Tragik des Lebens!

In der Vergangenheit wurde das Körperbezogene deiner Arbeit stets hervorgehoben und fast als Markenzeichen betrachtet. Man könnte nun sagen, dass Klänge immer auch ein physisches Phänomen sind und bei Performances auch der Körper eine wichtige Rolle spielt. Was macht diesen Aspekt gerade für Sudden Infant so wichtig?

Der körperliche Trieb und die Intuition sind viel schlauer als der Intellekt! Auf dieser These beruht eigentlich meine ganze Philosophie, sei es musikalisch, performativ oder künstlerisch. In meinen Augen hat sich die Musik mit der Erfindung des Computers sehr aus dem körperlichen Bereich wegbewegt, also sozusagen entkörperlicht. Dies finde ich sehr schade. Punk, Rock, Jazz, Metal sind körperliche Musik und die Energie ist wichtig, diese kann nicht mit Kopfgeburten erzeugt werden.

Schaut man sich die Auftritte von einer Band wie den Swans in den letzten Jahren an, so wird einem bewusst, dass die Musik (für Band wie für Zuschauer) extrem physisch (anstrengend) ist. Welche Rolle wird diesem Aspekt bei künftigen Auftritten von Sudden Infant zukommen?

Physische Musik ist wichtig! Sie stellt eine Art Reinigung dar, eine rituelle Abreaktion. Es gibt Menschen die gehen in die Kirche, um zu beten und der Messe beizuwohnen, andere Menschen gehen zu einem Swans-Konzert und lassen sich von der Wucht und der Intensität der Musik und deren Präsentation in andere Sphären hieven. Es hat was religiöses, man fühlt sich für einen Moment unsterblich. Die Menschen die weder in die Kirche noch zu Swans gehen, kommen dann vielleicht zu Sudden Infant. Wir arbeiten ja sehr viel mit Dynamik, Beschleunigung, Verdichtung, freier Fall usw. Dies ist sehr physisch und verlangt auch vom Publikum eine gewische Bereitschaft, in diese Tiefen einzutauchen.

Du warst mit deiner Musik nie nur in einer Sparte unterwegs, dein Release bei einem Rock’n'Roll-Label unterstreicht das ein weiteres Mal. Sind Genres für dich Hemmschuhe, oder siehst du in ihnen eher die Möglichkeit, unterschiedliche Menschen zu erreichen?

Dafür sind meine eigenen Interessen und Vorlieben einfach zu vielfältig. Ich mag es, wenn an einem Sudden Infant-Konzert die verschiedensten Menschen auftauchen. Leute aus dem New Wave/Gothic-Umfeld genauso wie Impro-Noise-Experimental-Industrial-Fans, Gay-Queer-Elektro-Punks, Metalheads oder Free Jazz-Freaks. Alles ist möglich! Es haben sich schon die unmöglichsten Leute an meinen Konzerten kennengelernt und oft sind daraus wunderbare Freundschaften entstanden.

Du tourst gerne ausgiebig, machst musikalische Exkursionen auch in Gegenden, in die sich nicht jeder westliche Musiker hinbegibt. Wie wichtig sind für dich Ortswechsel, um den kreativen Antrieb in Gang zu halten?

Lebenswichtig! Ohne diese Ortswechsel, Reisen und Aufenthalte würde ich mich vermutlich in meinem eigenen vier Wänden umbringen. Oder zumindest in tiefe Depressionen stürzen.

Letztes Jahr warst du ein paar Monate für Aufnahmen und Workshops in Kairo, hast dort mit Musikern wie Sam Shalabi zusammengearbeitet. Wie kam es zu diesem Aufenthalt, und was konntest du an Eindrücken und Erfahrungen, aber auch an neuer Musik mit nachhause nehmen?

Ich hatte mich bei der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia für einen Atelier Aufenthalt in Kairo beworben. Ich verspürte grosse Lust ein paar Monate wegzugehen, an neuen Kompositionen zu arbeiten und ein für mich noch unbekanntes Land und eine neue Kultur zu entdecken. Zu meiner grossen Überraschung habe ich den Zuschlag bekommen und bin im Januar 2012 für fünf Monate nach Kairo gereist. Die unglaubliche Intensität dieser Megastadt hat mich sehr fasziniert. Ebenso, dass westliche Logik und rationales Handeln in Ägypten kaum funktionieren. Ich habe gelernt, mit viel Geduld die Dinge von einem anderen Blickwinkel aus anzuschauen und mich einer alltäglichen Spiritualität zu öffnen. Während meines Aufenthaltes habe ich sehr viele Field Recordings gemacht u.a. auch von Demonstrationen und Kundgebungen auf dem Tahrir Platz. Ich habe bereits einen grossen Teil davon bearbeitet und in Kompositionen eingebettet. Dies soll in naher Zukunft auf Tonträger erscheinen.

Auf deiner aktuellen Tour wirst du u.a. mit Consumer Electronics und den
Sleaford Mods auf der Bühne stehen. Wenn man nach Gemeinsamkeiten zwischen diesen drei Projekten/Bands suchen würde, fällt einem vielleicht als erstes das Konfrontative ein, das insbesondere die Auftritte der Genannten prägt. Siehst du das ähnlich und ist das eine Gesellschaft, in der du dich wohlfühlst?

Ja, richtig! Und trotzdem sind die drei Bands sehr unterschiedlich, vor allem musikalisch. Ich mag transgressive Acts, aber der Humor darf auf jeden Fall nicht zu kurz kommen. Und dies ist wohl auch das Verbindungsglied zwischen diesen drei Bands.

Die Sleaford Mods haben sich innerhalb der letzten Monate auch auf den Seiten der Mainstreampresse wiedergefunden. Glaubst du, dass dir/euch das mit Sudden Infant auch (noch) passieren könnte?

Das glaube ich nicht, dafür ist die Musik von Sudden Infant zu abseitig.

Noch eine Frage, die vielleicht nach den vorherigen etwas profan anmutet. Vor einigen Jahren gab es im Wire einen recht umfangreichen Bericht über dich und dein Werk. Hat sich dieser Artikel in irgendeiner Form in gesteigertem Interesse an deiner Arbeit niedergeschlagen?

Nein, nicht wirklich. Ich habe nach dem Artikel einige Emails von Freunden erhalten, von denen ich seit vielen Jahren nichts mehr gehört hatte.

(M.G. & U.S.)

Fotos: Marcel Derek Ramsay, Martin Baumgartner, Laura Fusato

suddeninfant.com

suddeninfant.blogspot.de