Die in der Schweiz lebende Komponistin und Klangkünstlerin Noémi Büchi ist bekannt für ihre elektroakustischen Kompositionen voll unterschiedlicher Facetten, in denen Sound als formbare Materie fungiert. Ihre aktuelle EP “Liquid Bones” und die gerade erschienene Live-Version ihres Tracks “Liquifaction” setzen sich mit der Verflüssigung von Formen auseinander, ein Thema, das nicht nur klanglich, sondern auch konzeptuell tief in ihr Schaffen eingebettet ist. Im Interview spricht Büchi über ihre Faszination für Materialität und über die Beziehung zwischen Klang und Körper. Ebenfalls Thema sind gemeinschaftliche Projekte wie das hier bereits mehrfach vorgestellte Duo Musique Infini. Sie spricht über die Herausforderungen, aber auch über den Drang, Musik als eine Art lebendige Struktur zu begreifen, sowie über den Wunsch, sich von Strukturen der Musikindustrie zu befreien. Im Gespräch gibt sie Einblick in ihren kreativen Prozess und ihre zukünftigen musikalischen Wege.
Deine neue EP “Liquid Bones” thematisiert, einfach gesprochen, die Verflüssigung von Formen. Wie entstand dein Interesse an diesen Themen, und gab es Herausforderungen bei dem Gedanken, dies im Medium Musik umzusetzen?
Ich war schon immer fasziniert von Körper, von Innereien, von Anatomie, von Fleisch und Blut — und von unterschiedlichen Texturen und Materialien, die diese Welt zu bieten hat. Materie hat mich sozusagen immer fasziniert, zuerst vor allem auf visueller und haptischer Ebene — aber auch auf konzeptueller Ebene. Was ist das, was wir hier anfassen und wahrnehmen? Gibt es andere Weisen, diese Materien wahrzunehmen als unsere? Wohl schon. Diese Faszination war anfangs nicht direkt mit Klang verbunden – bis ich begann zu verstehen und zu untersuchen, welche Beziehung Klang zur Materie hat. Klang als Schwingung von Materie, Klang als „immaterielle Materie“ – er existiert nur in der Zeit, ist nicht greifbar und dennoch von materiellen Bedingungen abhängig. Während meines Studiums der elektroakustischen Komposition bin ich auf das Konzept gestossen, dass Klang in der elektroakustischen Musik oft als formbare Materie betrachtet wird – sei es in der musique concrète oder der Granularsynthese. Das hat mich sofort fasziniert. Ich wollte dieses Paradoxon, dieses Spannungsverhältnis zwischen physikalischem Phänomen und akusmatischer Wahrnehmung bzw. Erfahrung, tiefgehender verstehen. Das hat mich dann sehr gepackt. Und dann natürlich auch wie Materie, als Medium, als Instrument Klang erzeugt, egal welches. Es war eine klare Herausforderung, aber gleichzeitig hat sich das Ganze sehr intuitiv bei mir entwickelt.
In vielen deiner zurückliegenden Releases spielte Materialität eine zentrale Rolle und in einem Statement hast du deine Musik einmal als Materie beschrieben, basierend auf “collective memories between trauma and joy”. Würdest du sagen, dass sich ein roter Faden durch diese Releases zieht, der bis zu “Liquid Bones” reicht, oder siehst du auch wesentliche Unterschiede, die sich in deinen jeweiligen kompositorischen Ansätzen bemerkbar machen?
Ich denke nicht, dass diese wesentlichen Unterschiede – die durchaus vorhanden sind – den roten Faden zwischen meinen Arbeiten ausschliessen. Der kompositorische Ansatz verändert sich mit jeder neuen Arbeit – an jeder Komposition wächst man und passt dementsprechend Aspekte in der nächsten an. Genau das ist ja das Schöne daran. Um die Frage konkret zu beantworten: Ja, der rote Faden ist eigentlich zwangsläufig, unausweichlich. Jede:r Künstler:in befindet sich in einem nie endenden Prozess, in dem eine Arbeit zur nächsten führt. Ein Menschenleben ist so kurz, dass selbst die eigenen Obsessionen zu kurz kommen. Das heisst, ich befasse mich im Grunde immer mit denselben Themen – sie treten nur in wechselnden Formen und Nuancen in Erscheinung.
Soll Klang für dich immer eine körperlich spürbare Erfahrung sein?
Klang soll gar nichts. Und ausserdem ist hören immer eine körperliche Sache, da wir Ohren brauchen, um es zu rezipieren. Wenn der Klang aber über das Ohr hinausgeht und den ganzen Körper bewegt, finde ich die Erfahrung umso intensiver (und schöner) — aber keine Notwendigkeit.
Gibt es für dich – auf dem aktuellen Release, aber auch generell – eine greifbare Verbindung zwischen Kompositionsstruktur und emotionaler Resonanz?
Ja, ich denke, dass ich immer anhand von Emotionen komponiere. Und Emotionen haben ein sehr weites Spektrum. Ich frage mich auch immer wieder, was bedeutet Emotionen genau in der Musik? Das ist keine einfache Frage.
Das Klavier spielt auf der neuen EP eine zentrale Rolle, aber oft in unerwarteten Formen. Was bedeutet das Instrument für dich, und wie hast du es für dieses Album neu gedacht?
Das Klavier war mein erstes Instrument, ich bin damit aufgewachsen. Ich liebe es und gleichzeitig fürchte ich mich sehr davor. Ich fühlte mich nie gut genug im Klavierspiel. Ich respektiere dieses Instrument unglaublich. Für diese EP habe ich es nicht neu gedacht, das wäre eine viel zu prätentiöse Behauptung. Aber ich habe verschiedene Timbres und Techniken am Klavier ausprobiert und aufgenommen, ja.
Liegen deine Anfänge als Musikerin und Komponistin eigentlich eher in der klassischen Musik? Wie und wann hast du die Möglichkeiten der Klangkunst und der elektroakustischen Arbeit für dich entdeckt?
Ja, ich habe als Kind Klavier gelernt, mit einem sehr klassischen Repertoire, und bin dann schon in jungen Jahren in eine Kompositionsklasse für Kinder gegangen. Später studierte ich Musikwissenschaft und elektroakustische Komposition. Für mich war das Studium der elektroakustischen Komposition eine logische Konsequenz. Die elektronische Musik eröffnete mir neue Möglichkeiten, die ich bei akustischen Instrumenten nicht finden konnte. Heute schätze ich sowohl die bewusste imitierung als auch die Mischung beider Welten – akustisch und elektronisch.
Die Kompositionen auf “Liquid Bones” wirken meinem Empfinden nach fließender und leichter als frühere Arbeiten, was der darunterliegenden Komplexität noch mal eine ganz andere Wirkung verliehen hat. Falls du das ähnlich siehst, geht das auf bewusste Entscheidungen zurück oder war es eher das Resultat eines graduellen Entwicklungsprozesses?
Ich denke schon, dass ich ganz bewusst eine Art ‚Bruch‘ mit meinen früheren Arbeiten machen wollte. Obwohl die Thematik ihrem roten Faden folgt, wollte ich auf musikalischer Ebene etwas ‚Frisches‘ schaffen – etwas Leichteres. Die ‚Schwere‘ von Matter und Does It Still Matter fühlte sich für mich nun gesättigt und ausgeschöpft an. Aber all das — die Entscheidungen, die Brüche, sind Teil des Entwicklungsprozesses.
Wie hast du auf dem neuen Release das Gleichgewicht zwischen dieser Leichtigkeit und struktureller Dichte gefunden?
Es kommt darauf an, was man unter ‚Leichtigkeit‘ versteht. Für mich bedeutet dies im musikalischen Sinne vielleicht etwas weniger Schichtung, weniger Schwere, weniger ‚Chaos‘ im Sinne von ‚harmonisch und rhythmisch mehr Klarheit und sozusagen vielleicht auch mehr ‚Hoffnung‘ einbringen. Es ist schwierig zu formulieren, aber ich denke, es geht um die Stimmung. Vielleicht ist diese Art von Musik in dieser EP somit auch etwas ‚zugänglicher‘, obwohl ich auch diesen Begriff als problematisch und etwas bedeutungslos empfinde. Das Gleichgewicht hat sich auf intuitive Weise ergeben. Ich denke, es ist das Resultat oder besser gesagt der nächste Schritt in meinem kompositorischen Prozess. Ich hatte genug von dieser melancholischen ‚Schwere‘ und bin Kompromisse eingegangen, um neue Wege zu finden.
Wie gehst du mit potenziellen Begrenzungen – sei es technische Limitierung, eigene Regeln oder äußere Erwartungen – um? Befreit dich eine klare Struktur oder brauchst du eher einen offenen Raum ohne Einschränkungen, um arbeiten zu können?
Je nach dem. Manchmal finde ich Limitierungen sehr angenehm, weil die Möglichkeiten nicht unendlich sind und ich mich von Anfang an festlege, sei es bei der Instrumentenwahl, der Funktion der Musik innerhalb des spezifischen Auftrags (Tanz, Film etc.) oder anderem. Aber wenn ich Alben oder EPs komponiere, bevorzuge ich die totale künstlerische Freiheit — und ich liebe diesen Struggle ganz am Anfang des Prozesses, wo ich noch herausfinden muss, in welche Richtung ich gehen möchte. Das ist eigentlich der Schritt im Prozess, den ich am meisten geniesse — dieses Suchen, das manchmal auch in die Irre führt, aber manchmal auch zu neuen Erkenntnissen. An dem wachse ich am meisten in meiner musikalischen Sprache.
Betrachtest du deine Tracks eigentlich als abgeschlossene Gebilde, oder siehst du in ihnen eher Momentaufnahmen eines Prozesses, der nicht zwangsläufig abgeschlossen ist?
Es ist immer, immer ein Prozess, der nicht abgeschlossen ist. Und ich hoffe, dass der Prozess nie enden wird. Sonst wäre es ja langweilig, und das Suchen / Herausfinden wäre nicht mehr Teil meiner Arbeit.
Deine Stücke wirken oft detailliert ausgearbeitet, aber auch von einer gewissen organischen Unvorhersehbarkeit geprägt. Welche Rolle spielt Zufall oder Kontrollverlust in deinem kreativen Prozess? Arbeitest du bewusst auch mit generativen oder zufälligen Elementen?
Ich arbeite grundsätzlich nicht mit Zufall — zumindest nicht bewusst. Das einzig Zufällige, ist dass es immer wieder passiert, dass sich ein Klang so ergibt, ohne dass ich dies erwartet oder geplant habe, und das finde ich total erfrischend. Diese nicht voraussehbaren Ergebnisse zu akzeptieren und einzubauen. Aber ich arbeite grundsätzlich nicht wirklich mit rein generativen Elementen. Während des Studiums habe ich mal solche Stücke komponiert, die auf Zufall basierten. Es hat Spass gemacht, aber es war nicht wirklich eine Methode, die meinen Ideen und Interessen entsprach.
Ohne die sprachliche Seite deiner Stücke zu stark interpretieren zu wollen, setzt sich “Disappointing the Desire to Last” vom Titel her mit Begehren, eventuell auch mit Erwartungshaltungen und in jedem Fall wohl mit Vergänglichkeit auseinander. Welche persönliche oder auch ethische Relevanz haben diese Sujets für dich und würdest du sie generell als wichtige Themen in deiner Musik bezeichnen?
Absolut, ja. Man kann diesen Satz auf unterschiedliche Arten lesen oder verstehen. Auch ich lese verschiedene Dinge darin. Einerseits die Vergänglichkeit der Körper, der Materie — und aber auch der Beziehungen. Man gestikuliert elastisch zusammen, man meint, es sei ein Traum — man glaubt daran, man liebt, man kämpft, man redet, man plant — und dann plötzlich, ohne es wirklich bemerkt zu haben, ist es schon vorbei.
Du hast einmal gesagt, dass deine Musik sowohl emotionale als auch intellektuelle Euphorieschübe auslösen soll. Was bedeutet das für dich?
Ich denke, die Dichte und Komplexität verlangen ein fokussiertes Hören, und gleichzeitig ist das Ganze meistens ziemlich harmonisch, was den Zuhörer:innen vielleicht auch erlaubt, Emotionen, Assoziationen oder Erinnerungen damit zu verbinden. Aber das ist alles sehr subjektiv und eine blosse Behauptung von mir. Am Schluss ist Harmonie nur ein Konstrukt, das uns wohlbekannt ist, und darum vielleicht eine gewisse ‚Zugänglichkeit‘ erlaubt. Aber auch Disharmonie kann das. Deshalb ist diese Behauptung auch paradoxal. Aber mir geht es eigentlich vor allem darum, eine Musik zu schaffen, die auf mehreren Ebenen wirkt. Die emotionale Euphorie entsteht durch die unmittelbare Erfahrung – durch die Körperlichkeit Klangfarben, die Rhythmik, die Harmonie, die manchmal eine tiefe emotionale Resonanz hervorrufen kann (wie eben Assoziationen etc.). Diese Ebene ist oft unbewusst und direkt erlebbar. Die intellektuelle Euphorie bezieht sich auf die komplexeren, strukturierteren Aspekte der Musik, wie zum Beispiel die Komposition, die Verbindung von Klang und Konzept oder die Erkundung neuer musikalischer Ideen. Das ist mehr eine Art von Befriedigung, die der Zuhörer durch das Verstehen oder Entdecken von Details in der Musik erlebt. Für mich ist es wichtig, dass beide Ebenen miteinander interagieren. Die Musik sollte den Hörer:innen emotional berühren, aber gleichzeitig Raum für tiefere philosophische, politische oder musikwissenschaftliche Gedanken oder Reflexionen bieten. Es geht darum, eine Balance zu finden, bei der sowohl die rein gefühlsmässige als auch die intellektuelle Erfahrung zur gleichen Zeit aktiv sind, ohne die eine die andere zu überlagern.
Auf deiner Webseite habe ich gelesen, dass du u.a. auch Literatur und Sprache studiert hast. Mich würde interessieren, ob es deiner Meinung nach eine spürbare Auswirkung dieser Studien auf deine Musik und auf deine Vorstellung von Musik generell gibt?
Ja, definitiv. Mein Studium der Germanistik und Musikwissenschaft hat mich in meinem Denken und auch im Komponieren sehr stark geprägt.
Zusammen mit Manuel Oberholzer alias Feldermelder betreibst du auch das Duo Musique Infinie, mit “I” und “Earth” liegen bislang zwei Releases vor. Ist das Projekt auch aktuell ein Thema und habt ihr für die Zukunft weitere Arbeiten vor?
Das waren zwei sehr intensive Arbeiten — die auch etwas Zeit brauchen, um verdaut zu werden. Deshalb ist aktuell nichts Konkretes in Planung, aber eine Fortführung ist durchaus im Gespräch.
Musique Infinie arbeitet mit einer bisweilen cinematisch anmutenden Dramatik, während deine Soloarbeit im Vergleich introvertierter wirkt. Sind das zwei unterschiedliche Seiten deiner musikalischen Interessen, oder könnte das auch einfach daran liegen, dass bei MI schlicht die Ideen von zwei Personen zusammen in die Waagschale fallen?
Das weiss ich nicht genau zu beantworten. Es ist klar, dass, wenn zwei Komponist:innen zusammenarbeiten, zwei Welten aufeinandertreffen, und die Intensität und die Spannung ist sicher grösser. Es war aber auch unsere gemeinsame Absicht, eine cinematische Musik zu kreieren. Wir sind beide grosse Filmmusik-Fans und wollten diese gemeinsame Faszination als Basis nehmen.
Wohin soll sich dein Sound als nächstes bewegen? Gibt es neue klangliche oder konzeptionelle Bereiche, die du in der nächsten Zeit erforschen möchtest?
Ja, ich habe viele neue konzeptuelle Ideen und auch Bedürfnisse. Ich möchte mich langsam von den ‚Doktrinen‘ distanzieren, die ich bisher in der Musikindustrie erlebt und wahrgenommen habe — wie zum Beispiel die Idee eines Albums mit kurzen Tracks und Singles, und je kürzer die Tracks, desto besser (für Spotify Playlists). Je grösser und beeindruckender deine Live-Show, desto besser. Je mehr Fotos, desto besser. Und so weiter und so fort. Ich möchte nun authentischer werden und zu meinen ganz persönlichen künstlerischen Bedürfnissen zurückfinden und mich von den normativen gesellschaftlichen Erwartungen oder Trends mehr befreien. Deshalb interessieren mich momentan andere Konzepte und Ideen, wie lange Stücke zu komponieren (zwischen 20 und 60 Minuten), akustisch- elektronisch gemischt. Ich möchte mich bewusst gegen diese Prinzipien des Musikmarkts stellen und eine Musik schaffen, die sich Zeit nehmen kann — weil das, was Zeit in der Musik bedeutet, nicht das ist, was wir zu wissen glauben.
Interview: U.S. / A.Kaudaht
Fotos: Sharon Ritossa
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