GIANT SQUID: The Ichthyologist

Das Meer inspiriert die Menschen seit Anbeginn der Zeit, in Kunst und Kitsch ist seine Faszination bis heute ungebrochen. Als Ort der Bewährung und Herausforderung taucht es in unzähligen dichterischen Werken auf, wurde gemalt und besungen. Zum Symbol des Geheimnisvollen und Unbewussten wurde es aufgrund seiner Weite und Tiefe, ganz zu schweigen von den unergründlichen Landschaften und obskuren Wesen, die seine Oberfläche verbirgt. Auch AARON GREGORY von der kalifornischen Progmetal-Combo GIANT SQUID ist vom Ozean und seinen Bewohnern fasziniert. Tagsüber arbeitet er in einem meeresbiologischen Institut, doch seine größte Leidenschaft gehört überlieferten und selbstgesponnenen Mythen des Meeres, die er in verschiedenen künstlerischen Werken verarbeitet.

Giant Squid, benannt nach einer Riesenkrake der Gattung Architeuthis und so gewissermaßen auch ein Pendant zu den belgischen Ambient-Spezialisten von KRAKEN, ist das wichtigste dieser Projekte, doch ist Gregory auch der Literatur und literarisierten Comics zugetan. Eine seiner Mythen erzählt die Geschichte eines schiffbrüchigen Meeresbiologen, der eine folgenreiche Metamorphose durchlebt und im Untergang die Grenzen seines anthropozentrischen Weltbildes überwindet. Die Erzählung ist Stoff einer Graphic Novel, an der Gregory gerade schreibt. Wie zum Einstieg wird der Stoff auch auf dem zweiten Giant Squid-Album „The Ichthyologist“ umgesetzt, das nach einer vergriffenen Erstauflage im Eigenlabel nun mit einigen Änderungen wiederveröffentlicht wird. Dem Thema entsprechend prägt die CD ein episches und erhaben anmutendes Klangbild, bei dem sich ausgedehnte, zum Teil psychedelisch konnotierte Momente die Waage halten mit fetten Gitarrenwänden und furios entfesseltem Drumeinsatz. Streicher, Bläser, Oboen und etwas, das wie ein Banjo klingt, kommen zum Zug und wechseln sich ab mit einem dichten Gitarrensound, sauber herausgearbeitet von MATT BAYLES, der schon Platten von ISIS und PEARL JAM produzierte. Als Metalzaungast sehe ich davon ab, den Stil der Band in irgendeine Tradition einzuordnen und Vergleiche an den Haaren herbei zu ziehen – generell denke ich aber, dass die grobe Struktur nicht gerade durch besondere Innovation hervorsticht, dafür jedoch durch die Stimmigkeit der Komposition und die Harmonie der Einzelelemente. Auch der Gesang, bei dem sich die kraftvolle Stimme Gregorys mit den klaren, mir manchmal etwas zu sirenenhaften Vocals von JACKIE PEREZ GRATZ (GRAYCEON, ex-AMBER ASYLUM – dort primär Cellistin) abwechselt, wirkt ebenso stimmig wie vertraut.

Trotz des Konzeptalben-Charakters gibt es natürlich Höhepunkte, unter anderem gleich zu Beginn: „Panthalassa (Lamperta Tridentata)“, dessen Untertitel wie die meisten anderen hier auf ein Meerestier verweist, kommt nach einem kurzen Vorspiel aus Sprechgesang und Snaredrum schnell zur Sache und präsentiert die typisch heftigen Soundwälle der Band sehr überzeugend. Schon dieses Stück demonstriert den verhältnismäßig druckvollen Charakter, den „The Ichthyologist“ verglichen mit dem Debütalbum „Metridium Fields“ aufweist. Jacky steuert ein paar erdige Cellopassagen bei und lässt ihren euphorischen Sopran erklingen, ganz ähnlich wie bei ihrer eigenen Band. Gregory schreit und growlt dazu, bis das Stück recht unvermittelt in das monotonere, dafür umso hypnotischere „La Brea Tar Pits (Pseudomonas putida)“ überleitet. Teilweise bekommt der Gitarrensound etwas Schleppendes, allerdings ohne die Grenze zum Doom zu überschreiten. Das bereits von einer früheren EP bekannte „Throwing A Donner Party At Sea (Physeter catodon)“ ist das schnellste und vielleicht dynamischste Stück. Sehr basslastig und voller Wut ist es an manchen Stellen fast Punk. Doch nicht nur hier wird die Metalgrenze überschritten. Am weitesten vom Standardsound der Platte entfernt ist das angejazzte „Sutterville“, dessen Text in das Kalifornien des 19. Jahrhunderts, in die Zeit vor dem großen Goldrausch entführt. Das Barpiano würde auch zum Texmex-Sound von Bands wie TARANTELLA passen. Jackie zeigt hier, dass ihr zurückgenommener, beinahe gesprochener Gesangsstil oft wirkungsvoller ist als alle Hochtönerei. Erneut aufgegriffen wird die Americana-Komponente in der beklemmenden Stimmung von „Mormon Island (Alluvial Au)“, die sich auch der Violine von KRIS FORCE (AMBER ASYLUM) verdankt. Ruhige Momente bietet auch eine von historisch belegten Haifisch-Attacken erzählende Ballade namens „Sevengill (Notorynchus cepedianus)“, zyklisch eingefasst in die Klänge der Brandung und geprägt von der Stimme ANNEKE VAN GIERSBERGENs (AGUA DE ANNIQUE). Zählte ihre frühere Band THE GATHERING zu einer in den 90ern populären Metalszene, um die ich bis heute einen Bogen mache, so überzeugt ihr Beitrag hier durchaus.

Wie schon das Banddebüt wurde „The Ichthyologist“ in der genreübergreifenden Presse konsequent gelobt. Ob man dabei den seit langem inflationär gebrauchten Begriff „Post Rock“ als Stilelement bemühen muss, ist eine andere Frage – er mag passen, wenn man ihn sehr weit fasst und auf jedes „klassisch“ erweiterte Rockinstrumentarium bezieht. Nur müsste man dann auch einräumen, dass es Post Rock praktisch schon seit den 60ern gab und den Sinn des Präfixes überdenken. Viele Passagen bei Giant Squid sind definitiv Rock, trotz des Epischen haben die Stücke Songcharakter und auch den klassischen Momenten fehlt das Flächige, Strukturauflösende, das Bands wie den schon als Vergleichsgröße angeführten GODSPEED YOU! BLACK EMPEROR anhaftet. Letztlich soll das aber kein qualitatives Kriterium sein, denn das gelungene Zusammenspiel unterschiedlicher Stilkomponenten macht die Platte schlicht interessant für Hörer mit ganz unterschiedlicher musikalischer Sozialisation. Im Herbst erscheint die 2LP-Version bei VEGA VINYL.

(U.S.)