Der japanische Noisefabrikant MASAMI AKITA ist so etwas wie das musikalische Pendant zum unlängst für sein Lebenswerk ausgezeichneten Filmemacher JESS FRANCO, und das verbindende Element ist beider Ruf als Rekordbrecher. Durch unermüdliches Dilettieren und Improvisieren bringen solche Leute ein enormes Werk zustande, das letztlich im Einzelnen rau und fragmentarisch bleiben muss und gerade dadurch an Reiz gewinnt. An dieser Stelle kommt in der Regel der etwas naserümpfende Hinweis darauf, dass man bestimmt nicht alles von derartigen Künstlern kennen und besitzen muss. Zu Recht? Gewiss, jedoch gibt es auf diesem Planeten sicher mehr als eine Handvoll liebenswerter Verrückter, die jeden verfügbaren Schnipsel eines solchen Künstlers sammeln und sämtliche Informationen darüber wie ein Schwamm in sich aufsaugen – und schon solche Passionen rechtfertigen ein Werk in dieser Größe.
Gemeint ist damit in Akitas Fall ein Output von teilweise über zehn MERZBOW-Alben pro Jahr – und das seit 1980, die inoffiziellen Tonträger, von denen es Gerüchten zufolge mehrere hundert geben soll, nicht mitgerechnet. Möglich war dies anfangs natürlich nur im Kassettenformat, das wegen der bequemen Reproduzierbarkeit von Tapes unter Geräuschmusikern dieser Tage sehr beliebt war. Ab dem Ende der 80er stieg Akita dann nach und nach auf Vinyl und vor allem auf CD um, und die Liste seiner Labels liest sich mit EXTREME, ALIEN8, DIRTER PROMOTIONS, COLD SPRING und vielen anderen wie ein Who Is Who der (Post-)Industrial-Geschichte. Ich möchte den summarischen Teil über das Gesamtwerk möglichst kurz halten – zum einen, weil meine MERZBOW-Sammlung gemessen am Oeuvre bescheiden ist, vor allem aber, weil sich zum Genre des sogenannten „Japanoise“, zu Akitas Verwendung von Abfallgegenständen als Tonerzeuger, zu seiner Verknüpfung von extremer Musik und Sadomasochismus und nicht zuletzt zu einzelnen Tonträgern Vieles im Netz findet. Ledigleich den immer wieder kursierenden Redundanzvorwürfen möchte ich eine Hörprobe einiger seiner Klassiker wie “Music For A Bondage Performance” oder das von JOHN ZORN veröffentlichte “1930″ entgegenhalten. Diese zeigen nämlich, dass selbst innerhalb eines Einzelwerks ganz unterschiedliche MERZBOW-Motive ein recht vielgestaltiges, wenn auch nicht immer innovatives Mosaik ergeben können: chaotische Lärmkaskaden, Synthieklänge, provisorischer Clubnoise, Dronefragmente, Metallperkussion, herkömmliche Instrumente, kuriose Sänger und einiges mehr.
Die in drei rund zwanzigminütige Abschnitte unterteilte CD „Anicca“ ist nicht nur exemplarisch für die dynamischeren Ambitionen des Künstlers, der seine Hörer in gewissen Abständen gerne einem rhythmischen Hochgeschwindigkeitsrausch aussetzt. Sie gehört auch wieder zu den Aufnahmen, bei denen Akita zeitweise über seinen heute meist elektronisch erzeugten Standardnoise hinausgeht und akustische Klangerzeuger integriert. Im Fall des Openers „Anicca Part.1“ ist dies ein selbst eingespieltes Schlagzeug, dessen unkontrolliert wirkende Bearbeitung an die extremen Momente des Freejazz erinnert. Passend zu den hintergründigen Geräuschloops kommt es dabei allerdings zu keinen unberechenbaren Breaks und Tempuswechseln, was dem ekstatischen Rhythmus angesichts der schnellen Gangart einen umso hypnotischeren Effekt verleiht. Dieser Geradlinigkeit dankt sich einmal mehr auch der Eindruck des Vitalen und des gewollt Primitiven, der MERZBOW seit jeher anhaftet, und auf den auch die vegetative Natur anspielen mag, die sich auf dem Coverartwork der bedeutungslosen Ruinen menschlicher Zivilisation bemächtigt. Weitere (handgemachte) Instrumente werden in den Liner Notes erwähnt, sind aber kaum in ihrem individuellen Klang zu erkennen und gehen in der rauschigen Lärmwolke auf. Gerade dieses Stück, dessen Mixtur aus Verzerrtheit und Schnelligkeit der Noise-Hörer wohl eher noch bei Akitas Kollegen von THE GEROGERIGEGEGE suchen würde, ruft die von Beginn an intendierte physische Wirkung dieser Musik, über die man sich u.a. bei WOLFGANG STERNECK informieren kann, ins Bewusstsein: Wen es nicht mitreißt, der wird niedergetrampelt.
Beim zweiten Teil, der klanglich homogener ist und vielleicht noch am ehesten an frühere Arbeiten anknüpft, könnte man kurzzeitig der akustischen Täuschung einer manipulierten Gitarre auf den Leim gehen. Ansonsten bleibt der Lärm hier eher abstrakt und regt kaum zu Spekulationen über seinen Ursprung an, was den Track in seiner etwas verhalteneren Gangart hinter das erste Stück zurückfallen lässt. Die Körpererfahrung reduziert sich hier wieder auf den Hörsinn und verweist auf den tautologischen Charakter der Forderung nach einer physischen Musik-Erfahrung. Der etwas komplexer aufgebaute Schlusspart dagegen ergänzt das verzerrte Klangbild durch Hochfrequenztöne und analoge Synthieklänge – alles bei gleichbleibendem Tempo und konsequenter Hektik, die das Ganze dann doch zu einer runden Sache machen.
Insgesamt ist „Anicca“ ein Album, das zumindest partiell eine Hervorhebung verdient, da es zunächst in Sachen Brutalität und Geschwindigkeit viele bekannte Veröffentlichungen aus der Bandgeschichte überragt. Dass es nach dem ersten Drittel Altbekanntes bietet, ist schade, musikalisch aber durchaus nicht reizlos. Die Hardliner unter den Fans jedenfalls wird es nicht stören.
Übrigens: Wer Akita mal von einer ganz anderen Seite kennen lernen will, dem empfehle ich seine Zusammenarbeiten mit den derzeit so beliebten Rockern von BORIS. Zum Herunterfahren der entfesselten Lebensgeister nach sechzig Minuten „Anicca“ eignet sich vor allem das verrauschte Mammut-Drone “Sun Baked Snow Cave”.
(U.S.)