Ob die Literaturwissenschaft 2006 noch eine weitere Bernhard-Monografie benötigt, fragt sich wohl so mancher. Immerhin werden seit den 70ern Versuche unternommen, einen Überblick über das komplexe Gesamtwerk und die vielseitige, teils widersprüchliche Vita des Autors zu bieten. Als äußerst gelungenen Versuch kann man das vor sechs Jahren erschienene Porträt von Joachim Hoell verzeichnen. Aus Anlass zu Bernhards 75. Geburtstag und parallel zur bald fertiggestellten 22-bändigen Werkausgabe bringt Suhrkamp nun die bislang kompakteste Einführung heraus, verfasst vom in der Bernhard-Forschung bekannten Salzburger Germanisten Manfred Mittermayer, Autor zahlreicher Aufätze und dreier Bücher zum Thema, sowie Mitherausgeber der „Werke“.
Dem Konzept der Reihe gemäß beginnt der Band mit der aus Selbstzeugnissen und Forschungsergebnissen gespeisten Vita. Die Lebensbeschreibung, angemessen illustriert mit teils weniger bekannten Fotografien, eignet sich mit ihren 65 Seiten für einen Einstieg und als Basis für weiterführende Lektüren, wenngleich hier keineswegs Lehrmeinungen umgestoßen werden. Auch hier stehen die sogenannten „Lebensmenschen“ des Autors im Zentrum: Der Großvater Freumbichler, selbst Schriftsteller, wird in seiner Vorbild- und Mentorfunktion beschrieben, interessant ist auch für Mittermayer die in der Autobiografie thematisierte Übertragung von Autorschaft nach dem Tod des Idols mit der vererbten Schreibmaschine als Dingsymbol. Die Lebensgefährtin und anfängliche Mäzenin Stavianicek kommt ebenso vor wie das problematische Verhältnis zu Mutter und (abwesendem) Vater und die Initiation in Künstlermilieus (Kreise um Zuckmayer und Weigel, später dann Kontakte zu Theaterleuten wie Peymann, Minetti, Hoppe) und einiges mehr.
Weitgehend orientiert am derzeitigen Forschungsstand ist auch der das Werk behandelnde Abschnitt. Das Kapitel ist nach Gattungen unterteilt, die Ausführlichkeit richtet sich nach der quantitativen Präsenz im Werk, so ist die Lyrik auf wenigen Seiten prägnant abgehandelt. Mittermayer geht auf fast alle selbständigen Prosaveröffentlichungen in Form von maximal dreiseitigen Kurzdarstellungen ein, wobei die Autobiografiebände als ein zusammengehöriger Komplex verstanden werden. Als zentral wird der Perspektivismus von Wahrnehmen und Darstellen betrachtet, auch die ambivalente Wertsetzung von Gegenständen durch die für den Autor typischen „Umspringbilder“ (Schmidt-Dengler). Das gleiche gilt für die Dramenproduktion, wobei der Aufführungskontext berücksichtigt wird, allerdings mehrere Texte übergangen oder nur kurz erwähnt werden (so z.B. „Minetti“, zwar eines der bekanntesten, dennoch aber auch am wenigsten interpretierten Stücke Bernhards). Kontinuitäten, aber auch Entwicklungstendenzen, Brüche und Verschiebungen werden genannt. Begrüßenswert ist die Gratwanderung, Bezüge zwischen Leben und Werk aufzuzeichnen, ohne jedoch bei den Interpretationen in Biografismen zu verfallen. Am Innovativsten ist der mit „Wirkung“ überschriebene Teil: Neben schon zu Lebzeiten Bernhards produzierten Aufführungen, Vertonungen und Dramatisierungen von Erzähltexten wird vor allem die posthume Wirkung beschrieben. Dazu zählen die Beobachtung, dass der Autor „sehr bald auch von offizieller Seite als herausragender Repräsentant der kulturellen Physiognomie Österreichs gehandelt wurde“ (S. 123), ebenso das Interesse von Lesepublikum und Wissenschaft im Ausland und der Nachhall seiner Themen und Schreibweisen im Werk späterer Autoren. Neben schon bekannten Texten von Faschinger, Guibert und Salem werden neuere Veröffentlichungen von Maier, Kertész und Gaddis genannt. Auf allzu kritische Stimmen, die Bernhard eine totalisierende Sprache attestieren, wird mit Hinweis auf Ironie und „perspektivische Staffelung der Texte“ reagiert. Zu guter Letzt bietet der Anhang neben der obligatorischen Zeittafel noch eine überschaubare Auswahlbibliografie, zum Teil mit kurzen Kommentaren zum Inhalt der Schriften.
Auch eine noch so knappe und überblickshafte Einführung hat automatisch implizite Schwerpunkte, und so wird auch Mittermayers Bernhard-Bild schnell deutlich: Neben der Herausarbeitung von Motiven der Ich-Werdung und Selbstbehauptung innerhalb der Figurenkonzeption (ein Gegenstand, den der Verfasser in einer früheren Arbeit mit der strukturalen Psychoanalyse konkretisierte), ist unter anderem die Relativierung stereotyper Vorstellungen von Bernhard (Nihilistischer Autor, Skandalschriftsteller, Übertreibungskünstler) ein Anliegen der Darstellung. Gerade bei letzterem Punkt fällt eine sehr differenziert abwägende Haltung auf: Bernhards provokante Auftritte in der Öffentlichkeit, seine Rechtsstreitigkeiten, sein existenzieller und kulturkritischer Pessimismus werden durchaus angemessen besprochen; dies allerdings, ohne den Autor darauf zu reduzieren. Immer wieder werden gerade diese Punkte direkt mit Komik, Ironie und auch mit einer gewissermaßen „moralischen“ Seite des Werks in Bezug gesetzt. Auch die leider oft floskelhafte Wendung von der Musikalität seiner Texte wird als begrifflich vage problematisiert, ohne sie jedoch zu negieren.
Ähnlich differenziert wird bei Fragen der Werkgeschichte vorgegangen: Mit Verweis auf Bernhards erste literarische Publikation, die Erzählung „Das rote Licht“ (1950), und die einige Jahre später am Kärntner Tonhof uraufgeführten Kurzdramen wird die allzu rigide Vorstellung von klar nach Gattungen abgrenzbaren Werkphasen (Lyrik in den 50ern, Epik in den 60ern, Epik und Dramatik ab 1970) zwar relativiert, als Tendenz jedoch beibehalten und so auch zur Basis der Gliederung gemacht. Und ohne wie Pfabigan von einem Bernhardschen „Gesamttext“ auszugehen, bleiben verbindende Elemente stets fokussiert. Wichtig dabei ist wiederum der Zeitpunkt des ersten Auftretens bestimmter Motive und Darstellungstechniken: kontrastiv aufeinander bezogene Brüderpaare seit „Frost“, die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus seit „Der Italiener“, die Abschenkung von Hinterlassenschaften seit „Ungenach“, der absatzlose Monolog seit „Watten“ u.s.f. Als Hauptaktivität von Bernhards Figuren werden neben den problembehafteten Sprech- und Schreibakten zu recht Wahrnehmungspraktiken und die Theatralisierung von Wirklichkeit betrachtet. Gerade in dem Zusammenhang wäre ein lange überfälliger Konnex zu verschiedenen Ritualtheorien auch in diesem Rahmen interessant gewesen, der sicher viel zur Erhellung des internen Kommunikationssystems der Texte beigetragen hätte – ein Desiderat, dem bislang nur Betz’ leider unerwähnt gebliebene Untersuchung zum Karnevalismus in Ansätzen entgegenwirkt.
All dies, so mag man argwöhnen, ist bei aller Angemessenheit der Schwerpunktsetzung nicht wirklich neu gegenüber dem Stand bisheriger Einführungstexte. Als Zielgruppe eignen sich somit auch vor allem Einsteiger, die sich einen ersten Einblick in die Bernhard-Forschung verschaffen wollen. Für diese ist die Monografie sogar empfehlenswerter als vorangegangene Publikationen, denn Mittermayer schlägt durch die Länge der einzelnen Abschnitte, die weder langatmig noch bloß abrisshaft sind, die Brücke zwischen Lexikonartikeln und eigenständigen Monografien. In ihrer allgemeinverständlichen Sprache, die dennoch nie ins Populärwissenschaftliche abdriftet, eignet sie sich nicht nur für Fachleute, und die Möglichkeit, den allgemein als sperrig betrachteten Autor auch für den Schulunterricht interessant zu machen, scheint damit ein gutes Stück nähergerückt. Für diejenigen, die bereits in die Materie eingearbeitet sind, bietet sie immerhin eine gute Wiederauffrischung und einige punktuelle Ergänzungen.
Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006 (Leben Werk Wirkung: Suhrkamp BasisBiographie Bd. 11), 158 S., EUR 7.50, ISBN 3-518-18221-0.
(U.S.)