Die Kryptozoologie ist eine Art Parawissenschaft, die sich im Schatten des Hochbetriebes unserer Wissensfabriken eine kleine Nische gesichert hat. In ihrem Wesen oft spekulativ, versucht sie höchst interessanten Fragen auf den Grund zu gehen. Wie viele unentdeckte Tierarten mag es wohl auf unserem Planeten geben, und wird man sie jemals alle entdecken? Wie groß war die Fauna vergangener naturgeschichtlicher Epochen, über die man nur Bruchstücke weiß? Und welche Tiere waren eigentlich die Urbilder der vielen Fabelwesen, die die Mythen aller Kulturen bevölkern?
Gerade letztere Frage muss zwangsläufig immer ein Stückweit offen bleiben, und vielleicht teilen sich die Forscher den Bereich auch deshalb seit jeher mit Künstlern, Schriftstellern und anderen Mythenschöpfern, denen an einer sachlichen Demystifikation (zum Glück) nur am Rande gelegen ist. Einer der zur Zeit umtriebigsten Erforscher bizarrer Wesen ist Musiker und kein geringerer als NURSE WITH WOUND-Kollaboratuer Andrew Liles, seit Monaten als unermüdlicher Serientäter im Rahmen seiner „Monster“-Reihe aktiv und Lesern dieser Seite hinlänglich bekannt. Sein neuestes Werk ist eine fast hörspielartige Reise durch ein abenteuerliches Bestiarium, das nicht nur die Mythen fast aller Kontinente wie in einer barocken Wunderkammer präsentiert, sondern auch eine leidenschaftliche Hommage an den zum Teil naiven Exotismus unserer eigenen Populärkultur darstellt.
Die Reise beginnt mit „Tomte (Solitaire)“ im hohen Norden. Wer bei dem Namen und der Himmelsrichtung jetzt an eine Hamburger Indieband denkt, ist allerdings auf dem Holzweg, denn in dem Fall geht es um einen skandinavischen Kobold, der in den nordischen Ländern so beliebt war, dass er es sogar in die Märchen von H.C.Andersen schaffte. Wenngleich Teil von Liles’ monströsem Sammelsurium, ist Tomte doch ein eher freundliches Gespenst, was sich im Musikalischen durchaus spiegelt. Der auf russisch gesungene Text und das aus verwobenen Stimmen geformte Drone stimmen zunächst wohlige Klänge an und erinnern an „Mind Mangled Trip Monster“, den vorherigen Teil der Reihe.
Doch nur wohlig soll es auf Liles’ Expedition ins kuriose Tierreich nicht zugehen. Zwei der Stücke spielen sozusagen in Australien, in der mythischen Welt der Ureinwohner, und beschwören die Erinnerung an zwei äußerst bedrohliche Chimären namens Muldjewangk und Bunyip herauf, amphibische Wesen, die im Algengewirr zuhause sind und unvorsichtigen Fischern und übermütigen Kindern in den Dämmerstunden schon mal zum Verhängnis werden. Passend zum Kolorit gibt es ekstatische Klänge aus dem Didgeridoo zu hören – und bedrohliches Raubtierknurren, das einen für Momente ebenso erschaudern lässt wie die zunächst strukturlosen Perkussionseinlagen auf Töpfen und anderen Metallteilen. Doch Liles ist Bastler und Humorist, bringt mit Wes Cravens „Swamp Thing“ die moderne Pulp Fiction mit hinein und lässt Trommler einen Ethnobeat einspielen, der so sehr ins Bein geht, dass man schon ein ziemlich harter Mann sein muss, um nicht tanzen zu wollen.
Auch die restlichen Stationen der Reise bilden thematisch wie musikalisch ein beeindruckend stimmiges Panorama des Monströsen, das oftmals gerade dann seine furchterregende Wirkung entfaltet, wenn liebliche Melodien auf der Violine oder kindliches Glockenspiel eigentlich für ein heimeliges Gefühl, letztlich aber doch für Schauer sorgen. Ähnliches gilt für die Vokalbeiträge der Geschwister Taylor, deren Kinderstimmen schon auf dem „Baalstorm“-Album von CURRENT 93 zu hören waren. Die Route führt unter anderem in die karibische Welt der Zombies und des Voodoo (aus dem Off begleitet von einer Ansage von seltsam erotischer Verdrehtheit), in die indische Mythologie (passend eingespielt mit psychfolkartigen Gitarren- und Sitharklängen), auf die Müllhalden der posthistorischen Zivilisation (untermalt von Breakbeats) und zuguterletzt zu den (fast wieder freundlichen) Seeungeheuern der schottischen Inselwelt. Lob gebührt dabei auch den Mitmusikern, die dem Klang zu seiner vollen Gestalt verholfen haben: Ehefrau Melon Liles, Maniac (bekannt von MAYHEM, SKITLIV und SEHNSUCHT), Geigerin Annie Kerr und Alexi Borisov (ein russischer New Wave- und Industrial-Veteran) sind vielleicht die bekanntesten.
Bei all diesen Stationen wird Liles seinen im Interview geäußerten Ansprüchen gerecht. Er demonstriert, dass die sogenannte Experimentalmusik unterhaltend im besten Sinne sein kann, und dass ein virtuoses Zitieren und Zweitverwerten im besten Fall einer Veredlung gleichkommt. Auf „Muldjewangk…“ trägt Liles ein Stück zum Erhalt kurioser Mythen bei, schafft den Schulterschluss zwischen volkstümlicher und moderner Mythologie und verhilft auch dem sogenannten „Trash“ einmal mehr zu einer eigenen Größe. (U.S.)