Im Angesichts des scheinbar schwer Fassbaren kommt vielen Menschen häufig die eigentlich unerträgliche Floskel „Das ist ja unvorstellbar“ über die Lippen, dabei vergessen (oder verdrängen) sie, dass das gerade so Bezeichnete eben längst geschehen ist, geschehen, weil es in der Vorstellungskraft des Menschen lag und die ist bei Folter, Vergewaltigung und Mord schon immer sehr kreativ gewesen.
Der Fotoband „Stille“, dem eine Audio-CD von VORTEX – dem Einmannprojekt des Herausgebers Marcus Stiglegger – beiliegt, soll eine Auseinandersetzung mit der Massentötung psychisch Kranker in der Landesheilanstalt Hadamar während der Jahre 1941-45 sein, der Ermordung einer Personengruppe also, die wie so viele andere von den Nazis als „lebensunwertes Leben“ bezeichnet wurden. Ein Thema, das wegen eines kürzlich entdeckten Massengrabs bei einem Krankenhaus in Tirol mit über 200 Opfern des Euthanasieprogramms traurige Aktualität besitzt.
In den Gaskammern der hessischen Anstalt Hadamar wurden etwa 15,000 Menschen getötet. Eine Anstalt, in der sich das Gegenteil von Heilung abspielte, fanden sich in ihr doch neben den als Duschen getarnten Gaskammern noch ein Sektionsraum, in dem manchen Leichen Gehirne entnommen wurden und ein Krematorium, das dafür sorgte, dass die Leichenberge schnell und effizient abgetragen werden konnten. Eine Auseinandersetzung mit solchen Geschehnissen kann natürlich nur bedingt angemessen sein, man muss nicht einmal an das berühmte Diktum, nach Auschwitz sei keine Lyrik mehr möglich, denken, aber natürlich gibt es Herangehensweisen, die funktionieren (können). Und dieser Bildband versucht es mit Zurückhaltung (und nicht etwa mit Krawall, der dem “Werk” eines deutschen Vieldrehers innewohnt).
Klementowski nähert sich der Anstalt von außen, wobei die Schwarzweißfotografien des sonnenbestrahlten Gebäudes auch problemlos ein Lungensanatorium oder eine andere tatsächliche Heilanstalt, abbilden könnten. Allmählich gelangt man ins Innere, schaut eine dunkle Treppe hinab, gelangt in den Keller, schließlich in die Gaskammer, wobei das Foto der symmetrisch angeordneten Muster auf dem Boden eine perfide Illustration des industriell-systematischen Massenmords ist. Es folgt der Sezierraum, der Verbrennungsofen, schließlich verlässt man die Anstalt wieder, sieht sie nur noch von außen. Was die Bilder auf bedrückende Weise eindringlich macht, ist die völlige Leere, die Abwesenheit eines jedweden Menschen, die (vielleicht Titel gebende) völlige „Stille“. Hier gibt es keine Überreste, stattdessen kalte, kahle, klinische Böden und Wände. Einigen der Fotos werden Auszüge aus Ernst Klees „Euthanasie im NS-Staat“ gegenübergestellt, in denen sich die Täter von damals äußern und deren Worte in ihrer Nüchternheit die völlige Abwesenheit von Empathie und in ihrer bürokratischen Sachlichkeit die „Banalität des Bösen“ bezeugen, etwa dann, wenn es heißt: „Je nach Zahl der Toten haben wir zwei bis acht Tote verbrannt. Der Ofen wurde mit Koks geheizt. Die Arbeit wurde, je nach Bedarf, Tag und nacht [sic] fortgeführt.“ An anderer Stelle sagt jemand: „Es kam hinzu, dass die meisten der verbrannten Personen verhältnismäßig mager waren. Die Verbrennungszeit für eine magere Leiche ist größer, [sic] als für eine wohlgenährte.“
Eine Audio-CD „Stille“ zu nennen, ist fast schon paradox: Man hört düstere Klangflächen, verhallte Klavierpassagen, Wassertropfen. Einzig der letzte Teil trägt mit „Requiem“ einen Untertitel, der einen Hinweis darauf gibt, wie dieser letzte mit verfremdeten Orgeldrones arbeitende Track gelesen werden sollte. Nach einer kurzen Pause flüstern gegen Ende Kinderstimmen. Der Rest ist Schweigen, Stille.
(M.G.)