Will Oldham schrieb in den Linernotes zur Compilation „Judas as Black Moth” über David Tibets Projekt: „Current 93 exists at the eye of a salutary storm; one that yields fear from fear, awe from awe and love from love.” Diese Sturmmetaphorik durchzieht das gesamte neue Album. Anlässlich der beiden Auftritte im HMV Forum bezeichnete Sebastian Horsley – der „Dandy in der Unterwelt” – einen Dichter als jemanden, der seine Faust emporstreckt und hofft, dass ein Blitz einschlagen werde. Und natürlich passt diese Definition auf David Tibet, dessen theologische Obsessionen immer gezeichnet waren von (sehr eigenen) Vorstellungen der Apokalypse, auch im ursprünglichen Sinne als Offenbarung verstanden. Tibet selbst bezeichnete „Baalstorm, Sing Omega“ als den Abschluss einer mit „Black Ships Ate The Sky“ begonnenen Trilogie. Egal, ob das nun eine (sehr wahrscheinlich) nachträglich vorgenommene Attribution ist, so kann man doch zumindest das Koptische nennen, das alle drei Werke verbindet.
Musikalisch betrachtet war „Black Ships…” aufgrund der Vielzahl der Beteiligten eine Art „Thunder Perfect Mind” der 00er Jahre, thematisch ganz am Ende (der Geschichte) angesiedelt: Die titelgebenden schwarzen Schiffe kündigten die Ankunft des letzten Cäsars und somit die Wiederkehr Christi an. Das drei Jahre später erschienene „Aleph at Hallucinatory Mountain“ war musikalisch anders ausgerichtet, wurde zum Rockalbum innerhalb des Current 93-Kosmos, thematisch begab Tibet sich an den Anfang, zu Adam und Eva, Abel und Kain (die Worte „In the beginning was the murderer“ leiten das Album ein).
Verglichen mit den beiden Vorgängern ist „Baalstorm, Sing Omega“ leicht reduziert – sowohl musikalisch als auch thematisch. Die Anzahl der Beteiligten wurde zurückgenommen, die Instrumentierung ist zum Teil spärlicher geworden, harsche Gitarren fehlen völlig und thematisch scheint das Album wesentlich privater zu sein, wobei man das natürlich vorsichtig formulieren sollte, schließlich ist das gesamte Werk Tibets durchzogen von einer Vermischung von Persönlichem und Globalem, will sagen: Theologisch-Kosmischem, nur hier scheint das Private stärker im Vordergrund zu stehen („The album had been a host of storms gathering inside me for some time“ schreibt Tibet im Booklet) – getreu dem Motto „the great in the small“. Wenn man in den Linernotes die Genese (die Genesis) des Albums nachvollzieht, wird deutlich, wie sehr Koinzidenzen, falsch verstandene Worte elementare Bestandteile des Gesamten sind, eingeordnet werden in eine ganz eigene (Heils-) Geschichte. In der Rezension zu „Aleph…“ schrieb ich, dass Tibet „(wieder einmal) die Idiosynkrasie zur obersten Richtlinie erhoben und es darin tatsächlich zur Perfektion gebracht“ habe. In einem anderen Forum behauptete jemand, auf dem neuen Album überlagere die Idiosynkrasie die Poesie, mache das Ganze kaum noch nachvollziehbar, wobei man m. E. auch schon bei den beiden vorherigen Alben das übergeordnete Konzept nur mit Erläuterung(en) (Linernotes im Booklet von „Black Ships…“, Einleitungstext zu den „gnostischen Cartoons“ zum besseren Verständnis von „Aleph…“) ansatzweise verstehen konnte, die verwendete Bildlichkeit war auch dort schon extremst hermetisch und disparat (wer will schon behaupten, er wisse, was es mit dem Geisterzug auf sich hat, der den Klippen einen Orgasmus vortäuscht – um eines von unzähligen Beispielen, die tatsächlich Legion sind, zu nennen).
Doch zurück zum Album: „I Dreamt I was Æon“ beginnt mit einer Klaviermelodie Baby Dees (deren Einfluss die großartige „Birth Canal Blues“-EP entscheidend prägte), zu der sich John Contreras Cello gesellt um einen melancholischen (Klage-)Gesang zu untermalen: „I came to state the teeth of the truth“ singt Tibet; einer der stärksten Tracks des Albums und der letzen Jahre und stimmungsmäßig entfernt an „Island“ – das vielleicht atypischste Album der Band – erinnernd. Glocken läuten das Ende (des Stücks) ein. „With Flowers in the Garden of Fires“ wird dagegen (musikalisch) von einem Neuzugang geprägt: Eliot Bates’ Oud (eine Kurzhalslaute) in Kombination mit der schleppenden Perkussion des großartigen Alex Neilson geben dem Stück einen stark orientalischen Charakter – man mag da an den Einfluss von Tibets Studien des Koptischen in Ägypten denken. Der Gesang ist entspannt. „December 1971“, durch James Blackshaws Akustikgitarre an ältere Aufnahmen anknüpfend, verweist auf Tibets Besuch in Stonehenge, von dem das Foto auf der Rückseite Zeugnis ablegt, hier erreicht der Gesang eine manisch-obsessive Intensität (ähnlich wie auf „Black Ships Seen Last Year South Of Heaven“ auf „Black Ships…“). Tibet hat des Öfteren darauf hingewiesen, welch traumatisches Ereignis der Umzug seiner Eltern von Malaysia (wo er die ersten Jahre seines Lebens verbrachte) nach England für ihn gewesen ist, er sich aus dem Paradies vertrieben glaubte und er niemals mehr so glücklich gewesen sei wie dort. Das mag erklären, warum die Kindheit schon immer eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt hat, hier versinnbildlicht durch die Bilder, die Tibet als Kind zeigen und die das ganze Album durchziehenden Kinderstimmen (die von Isabel und Bea Taylor stammen). „Baalstorm! Baalstorm!“ wird von Andrew Liles’ geprägt, der inzwischen (wenig überraschend) vollends die Rolle Steven Stapletons übernommen hat: Seine elektronische Untermalung der Worte Tibets, die mit der ihm eigenen Dringlichkeit vorgetragen werden, lassen vielleicht erahnen, warum Liles spaßeshalber meinte, das neue Album besitze Discoelemente. „Passenger Aleph in Name“ beginnt mit dem dezenten Glockenspiel von James Blackshaw, zu dem Cello hinzukommt. Hier wird das Treibende zurückgenommen, man befindet sich vielleicht (wie auch bei den folgenden Stücken) im Auge des Sturms und kann einen Augenblick zur Ruhe kommen – einige mögen gar an „Of Ruine or Some Blazing Starre“ erinnert werden. „Tanks of Flies“ ist ein kürzeres, ebenfalls sehr ruhiges Stück, in dem der Sänger kurz Frieden gefunden zu haben scheint. „The Nudes Lift Shields For War” knüpft durch den Einsatz von Glockenspiel und Gitarre und auch von der Stimmung an „Passenger… “ an. Wem das zu wenig Sturm ist, den dürften die letzten beiden Stücke entschädigen: Die Perkussion und Gitarre sind bei „Night! Death! Storm! Omega!“ zwar dezent, aber der Gesang -Tibet trägt zwei Texte gleichzeitig vor- besitzt wieder diese fast schon fanatisch zu nennende Dringlichkeit. Abgeschlossen wird das Album von „I Dance Narcoleptic“ – einem der irrsinnigsten Tracks, die Current 93 in den letzten Jahren aufgenommen haben: Baby Dee spielt die Hammondorgel und erzeugt an Jahrmarktsmusik erinnernde Klänge, zwischen den Zeilen findet sich eine selten vorkommende (semi)politische Äußerung („Over the Queen/Of England’s prostitute crown“) und hier erreicht der Einsatz von Kinderstimmen seinen Höhepunkt. Das ist Hysterie in Perfektion, so dass die Frage „Was God on your tongue/Last twilight/When the thunder hit/And split your mind?” durchaus berechtigt ist. Nachdem das Stück ausgeklungen ist und einige Minuten der Stille vergangen sind, hört man Wellenrauschen und Bill Fay – für Tibet und Cashmore der größte Singer/Songwriter aller Zeiten – einen unveröffentlichten Song vortragen, der im Sturm untergeht. Ob man das als Happy End deuten kann? Eventuell kann das das Cover zierende Bild Tibets, das etwas von Nick Blinko beeinflusst zu sein scheint und zahllose Figuren in unterschiedlichen Stimmungen zeigt, einen Hinweis geben, da es eine gewisse Ambivalenz besitzt.
Vielleicht sollte man am Ende noch einmal auf Sebastian Horsley – „England’s finest beauty spot“, wie er sich selbst bezeichnete – zurückkommen, der in London postulierte: „Music releases us from the bonds of gravity“. Current 93 tun es bestimmt – und zwar als Sturm, der einem den Boden unter den Füßen wegreißt – damit man sich am Ende wie Dorothy in ein Land versetzt fühlt „as real as rainbows/as cool as flies“.
(M.G.)