Little Annie, vormals Annie Anxiety, zählt zu denjenigen Künstlerinnen, bei denen man eine seitenlange Biografie voranschicken könnte. Man könnte zahlreiche Medien und Genres benennen, in denen die Wahl-New Yorkerin in den letzten dreißig Jahren tätig war, unzählige Kollegen aufzählen, mit denen sie neben MARC ALMOND, COIL und CRASS noch gearbeitet hat und – potentielle Neu-Fans damit hoffnungslos verschrecken. Annie Bandez verfügt über eine großartige Soulstimme in Alt, und hat in Paul Wallfisch, bekannt von den Gruppen BOTANICA und FIREWATER, einen virtuosen Pianisten gefunden, dessen Spielweise bestens mit ihrem Gesang fusioniert – zur nicht unwesentlichen Bereicherung jenes musikalischen Feldes, das der gängige Jargon gerne Torch-Song nennt.
“Genderful” ist nicht nur die 160ste Veröffentlichung von Southern Records, sondern auch der zweite gemeinsame Longplayer von Annie und Paul. Während die beiden vor etwa zwei Jahren auf “When Good Things Happen To Bad Pianos” noch ihren Idolen von Jacques Brel über Frank Sinatra bis Tina Turner ihren Tribut zollten, stammen hier alle elf Songs aus eigener Feder. Schon auf den ersten Höreindruck unterschiedet sich “Genderful” durch vielfältigere stilistische Zutaten vom Vorgänger. Man bekommt hier natürlich keinen vollkommen anderen Sound geboten, auch wenn das erste Stück „Tomorrow Will Be“ fast ein wenig in Richtung Elektronica geht. Nach wie vor prägen markante Klaviermelodien das Bild, die, je nach Song, direkt aus einem Jazzkeller in Harlem oder einem Pariser Existentialisten-Club der späten 50er importiert scheinen. Dezent eingesetzte Streicher und Blasinstrumente kommen hinzu, und gerade die kommen weitaus variierter und vor allem häufiger zum Einsatz. Am stärksten fällt dies bei Stücken ins Gewicht, die an alte Filmmusik oder an Musicals erinnern, und sich wie „Suitcase Full of Secrets“ mit dem gut ausbalancierten Verhältnis von Herbheit und Gefühlsbetontheit messen können, das man von Sängerinnen wie Nina Simone her kennt. Auch „Because You’re Gone“, mit den schmachtenden Backing Vocals von Paul vielleicht der Höhepunkt des Albums, fällt in diese Kategorie. Das sind Songs, die eine emotionale Tiefe haben, die man bei vergleichbarer Musik heute bestenfalls in Alben wie Marianne Faithfulls „Before The Poison“ geboten bekommt. Ich halte es für eine positive Entwicklung, dass der Minimalismus des Vorgängers, dessen klangliche Reduktion als einmaliges Statement sehr wirkungsvoll war, nicht im gleichem Maß wiederholt wurde. So finden auch vereinzelt Gitarren ihren Einsatz, und bei „Billy Martin Requiem“ sorgt ein leicht gebrochener Rhythmus für das passende Fundament einer berührenden Hommage an zwei New Yorker (Gender-)Originale: den markig-maskulinen Sportmanager und die in ihrer Fragilität ebenso markante “She Male”. Zum Bossa Nova-Tanzen fordern uns die beiden dann in „The God Song“ auf, einem Stück, das lebensfroher fast gar nicht sein könnte. Das Gros des Albums machen allerdings stimmungsvolle Chansons wie “Miss Annie Regrets” und „In The Bar Womb“ aus. Letzteres könnte direkt aus der „Dreigroschenoper“ gefallen sein und erinnert an Songs wie das Cabaret-Shanty „Good Ship Nasty Queen“ auf Annies 2005er Album “Songs From The Coalmine Canary”, bei dem noch Antony Hegarty (JOHNSONS) und Joe Budenholzer (BACKWORLD) als (weniger graue) Eminenzen fungierten. Noch unterhaltsamer und kabarettistischer geht es auf dem von einer an Woody Allen erinnernden Klarinette begleiteten „Cutesy Bootsies“ zu, eine kurzweilige Satire auf das Klischee des eitlen, pubertären Dummchens, oder „Sexy Zen Sage“, dessen Pianopart glatt von einer bestens gelaunten Baby Dee stammen könnte.
Vieles in „Genderful“ ruft Sternstunden amerikanischer Populärkultur in Erinnerung. Man könnte lange überlegen, warum Annie gerade in den Texten auf so Vieles zurückgreifen kann, ohne dabei selbst ideenlos zu wirken. Wenn Phrasen wie „I see you on the other side of heartache“ oder „Some times when nights are long“ in ihren Texten vorkommen, wirkt dies, als transportiere jemand bewusst und voller Absicht die ganze Geschichte dieser Worte mit, die in zahlreichen Evergreens vorkamen und längst kulturelles Allgemeingut sind. Man hat das Gefühl, die ganze Geschichte solcher Zeilen in einem intertextuellen Chor zu hören und wird auf einmal der Bedeutsamkeit gewahr, die unter ihrer abgegriffenen Oberfläche steckt. Aber nicht nur im Rahmen solcher Wendungen wird die Freude an der Wiederbelebung demonstriert: Ob Manhattan in Leonard Cohen-Manier eingenommen wird, oder ob man Gott ganz nebenbei auch für Judy Garland dankt, auch auf direkter Verweisebene bekennen sich Annie und Paul zu ihren Vorbildern. Manchmal kommen mir die beiden so vor, als wollten sie nur eine Fußnote zu all diesen Dingen sein. Unter anderem liegt auch darin ihre Größe. Für mich ist “Genderful” bereits eines DER Alben des anstehenden Sommers. (U.S.)