Die englische Folksängerin Sharron Kraus wurde vielen unserer Leser wohl durch ihr letztes Studioalbum „The Fox’s Wedding“ bekannt, das 2008 auf dem Durtro Jnana-Label von David Tibet und Mark Logan erschien. In dem kurz darauf geführten Interview vermittelte sie einen Einblick in ihre vielseitige Persönlichkeit, die ein leidenschaftliches Interesse an kulturellen Traditionen mit modernen Ansichten in sich vereint, ohne dass es wie ein Widerspruch anmuten würde.
Auch ihre Musik zeichnet sich durch einen derartigen Facettenreichtum aus, sei es solo oder auf ihren vielen Kollaborationen (von denen ich an dieser Stelle nur „The Black Dove“ zusammen mit Christian Kiefer hervorheben will, weil diese nämlich Kraus’ schönsten und poppigsten Song „On the Chase“ hervorbrachte). Auf die Einflüsse des englischen und amerikanischen Folk, die in ihren Aufnahmen zu einer untrennbaren Einheit verschmelzen, wurde wiederholt hingewiesen. Ganz gleich ist es dabei, ob sie mit einer Gitarre oder einem Banjo den einzelnen Songs ihre Gestalt gibt. Ihr größtes Markenzeichen ist allerdings ihre Stimme, die zu beschreiben kein leichtes Unterfangen darstellt. Mag sie auch in der Tradition von Vashti Bunyan oder Shirley Collins stehen, so birgt sie dennoch Eigenheiten, die lediglich als „herb“ zu bezeichnen eventuell abwegige Assoziationen zu einem rauen, fast rauchigen Timbre wecken würde. Ihr Gesang ist jedoch glasklar. Fast erscheint ihre Stimmarbeit wie ein betont ungekünstelter Sopran, dem permanent eine Brise Alt beigemischt ist.
Zeigten „The Fox’s Wedding“ und der als Download erschienene Longplayer „Twin Songs“ Kraus’ Folksound von einer klanglich reduzierten Seite, so fällt das gerade erschienene „The Woody Nightshade“ durch eine etwas üppigere Klangfülle auf, an der eine ganze Reihe an Gastmusikern ihren Anteil haben. Ein kraftvolles Drone leitet das Album ein, versponnene Glöckchen gesellen sich hinzu, aber auch ungewohntes Gitarrenfeedback mischt sich unter das Klanggewebe, und letzteres stellt vielleicht die markanteste Neuerung dar. „Two Brothers“ ist das beeindruckendste Stück des Albums, eine im klassischen Volksballadenstil erzählte Geschichte, die von einer Entscheidung für die dunkle, morbide Seite des Lebens berichtet, eingepackt in eine allegorische Dreiecksbeziehung. Vielleicht sind es die geheimnisvolle Gesangsmelodie und die beschwörend langsamen Gitarren, die dieses Motiv gar nicht wie einen Gemeinplatz wirken lassen. Das Strumming erinnert hier übrigens sehr an RUSALNAJA, Kraus Projekt mit Gillian Chadwick, und deren großartig paganen „Wild Summer“-Song.
Im Kleinen hat jeder Song auf „The Woody Nightshade“ seine eigene Exzentrik, mögen es nun quietschende Saiten sein oder verspielt eingesetzte Backingvocals, an denen unter anderem auch Nancy Wallace von THE OWL SERVICE beteiligt ist. Die Geschichten, die sie erzählen, sind bisweilen von einer spukhaften Unruhe durchweht, nur um in nächsten Augenblick ganz überraschend eine vitale Sinnlichkeit zu versprühen. Mal erscheinen sie in bildreicher, hermetischer Gestalt, dann wieder überraschend simpel und klar. An der Liebe, so das lyrische Ich in „Recoice in Love“, soll man sich erfreuen, doch wer ihre Geheimnisse zu ergründen sucht, begeht womöglich einen Fehler, und letztlich ist es ohnehin die Freundschaft, der hier ein Loblied gesungen wird. Vielleicht ist das ja ein Ausweg aus dem Kreislauf von Liebe und Verlust, dem die Sängerin bereits ein ganzes Album gewidmet hat.
Mit ihrer Sammlung von zehn holzigen Nachtschattengewächsen durfte Sharron Kraus nicht nur ihren alten Fans eine Freude machen, sondern auch endgültig ihren Status als feste Größe innerhalb der genreübergreifenden Musikwelt sichern. Zu gönnen wäre es ihr. (U.S.)