V. A.: We Bring You a King with a Head of Gold

2007 veröffentlichte das auf (legale) Folkdownloads spezialisierte Webportal Woven Wheat Whispers mit Hilfe von Cold Spring „John Barleycorn Reborn“, eine Doppel-CD, auf der sich zahlreiche Künstler daran machten, unter dem Titel des vielfach interpretierten Traditionals „John Barleycorn“ eine Traditionslinie vom „dunklen Britannien“ ins 21. Jahrhundert fortzuführen. Dabei orientierten sich die am Sampler Beteiligten – der zu einem Zeitpunkt entstand, an dem auch die Mainstreammedien sich plötzlich für kurze Zeit mit ihrem ADHS-Blick dem Folk zuwandten– (trotz experimenteller Momente) dem Thema letztlich angemessen  an tradierten Formen und traditionellem Instrumentarium, wodurch man sich einer zügigen Vereinnahmung (unbewusst) widersetzte, denn diese Herangehensweise war tendenziell wenig „weird“ oder „wyrd“, „free“ oder „freak“.  Für die Käufer der CD gab es die Möglichkeit, einen dritten, sehr umfangreichen Teil umsonst downzuloaden, der qualitativ dem regulären Sampler in nichts nachstand. Kurze Zeit später verkündete Woven Wheat Whsipers das Ende: Sinkende Verkäufe legaler Downloads und eine gehackte Seite ließen die Betreiber entnervt aufgeben.

Jetzt veröffentlicht Cold Spring den Nachfolger, der auch durch Parallelen bei Artwork und Gestaltung (Bilder vom Bestellen der Felder, Zitate aus „John Barleycorn“ am Rand des Trays) und den Untertitel „Dark Britannica II“ explizit an den Vorgänger anknüpft.

In den Linernotes spricht Simon Collins von den (fast schon archetypischen) Begriffen, die in einer Reihe der einzelnen Lieder wiederkehren: Kühe und Lämmer, Vögel  (Raben und Schwäne), aber auch Holz, Wind, das Meer etc. Dabei weist er (wenn m. E. auch nicht konsequent genug) darauf hin, dass die Voraussetzungen heutzutage andere sind und wahrscheinlich keiner der hier vertretenen Künstler tatsächlich auf Höfen dem Anbau von Getreide nachkommt – schließlich kann auch nicht jeder wie Timothy Renner auf einem Bauernhof arbeiten.

Die musikalische und konzeptionelle Ausrichtung fast aller der hier Beteiligten ist wieder ähnlich wie auf dem Vorgänger, denn: „Folk don’t [sic] change much.“, wie es in den Linernotes heißt und natürlich kann man sagen, dass sich Gefühle wie Liebe und Hass, Stolz und Scham über die Jahrhunderte ähneln, wie Collins etwas unreflektiert postuliert, aber die sozioökonomischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen sind doch gänzlich andere, so dass die anstehende Geburt eines unehelichen Kinds (zumindest in westlichen Gesellschaften) nicht mehr wie ein Damoklesschwert über der Frau schwebt und der Untergang, der Individuen oder kleinere Gruppen bei Missernten bedrohte, inzwischen dank (vgl. U. Horstmann) des Atoms die komplette menschliche Rasse auszulöschen vermag.

Es gibt eine Reihe von Konstanten bei den insgesamt 34 (!) hier vertretenen Musikern: Man interpretiert Traditionals (z.B. RICHARD MASTERS, THE HARE AND THE MOON, RELIG ORAN), verweist auch mit Eigenkompositionen auf die (mythische) Vergangenheit bzw. Legenden (z.B. KATE  HARRISON, WYRDSTONE, THE KITTIWAKS, THE ROWAN AMBER MILL), andere der hier Beteiligten machen mit ihrem Projektnamen schon die programmatische Ausrichtung deutlich (CORNCROW,  MAGICFOLK,  DEMDYKE (der Name verweist auf einem im 16. Jahrhundert stattgefundenen Hexenprozess und das Projekt sollte nicht mit den großartigen, jedwede Witchhousekapelle an die Wand spielenden DEMDYKE STARE verwechselt werden). Dabei machen einige Beiträge deutlich, dass der hier dominierende Ansatz nicht zu einer verengten national(istisch)en Sicht führen muss: TINKERSCUSS interpretieren ein von der amerikanischen Dulcimerspielerin Lorraine Hammond komponiertes Stück, der Schwede Emil Brynge stellt seinen „Devon Dream“ vor, THE KITTIWAKES verweisen auf eine Sage von den Lofoten, RATTLEBAG interpretieren „The Two Sisters“ und beziehen sich musikalisch auf eine alte schwedische Melodie –letzt genanntes Projekt und auch THE FATES verzichten gänzlich auf Instrumente und ihr mehrstimmiger Gesang rückt das Wort völlig ins Zentrum des Geschehens. Auch BARRON BRADY stellen die Stimme in den Vordergrund.  Auf der anderen Seite des Spektrums gibt das vom Dudelsack dominierte Instrumental „Fithfath“ von TELLING THE BEES, das man sich auch gut in einem vom Lager- und Bitterdunst geschwängerten Pub vorstellen könnte. Andere Künstler bieten dramatische spoken words (SEDAYNE:SUNDOG), es finden sich Anklänge an Shirley Collins (KATE HARRISON), aber auch semigothische Momente (RUBY THROAT mit der ehemaligen DAISY CHAINSAW-Frontfrau Katie Jane Garside) oder man versetzt den Hörer durch den Einsatz von Drehleier etliche hundert Jahre in die Vergangenheit (DROHNE). Natürlich gibt es auch Momente unfreiwilligen Pathos’: CERNUNNOS RISING -die Stimme des Sängers wurde von einem Rezensenten mit der von Neil Diamond verglichen- machen deutlich, dass bei allzu großem Hören auf das Herz („Hear it with my Heart“) der Kitsch nicht weit ist.

Eines muss man sich dennoch auch immer fragen und zwar, ob die vermeintlich auf alte, vergangene Zeiten und halbvergessene Rituale verweisenden Songs wie „John Barleycorn“ (der ewige Zyklus von säen und ernten, werden und vergehen) nicht evtl. lediglich ganz profan ein paar hundert Jahre alte Trinklieder darstellen (wie Dave Arthur einmal etwas ernüchtert feststellte). Diese Unsicherheit, was Ursprünge etc. betrifft, scheint auch durch, wenn Collins in den Linernotes davon spricht, dass die Wickerman-Verbrennung eines jährlich im Norden Englands stattfindenden Folkfestivals sicher sowohl von  Robin Hardys gleichnamigem Film als auch von „fragmentarischen“  vorchristlichen Bräuchen inspiriert sei. Manchmal hat man den Eindruck, dass manches weniger Interpretation als Spekulation, vielleicht auch romantisierende Rückprojektion ist – was gesagt werden musste, aber nicht gegen diesen gehaltvollen Sampler spricht.

(M.G.)