Bei Florian Heckers „Chimerization“-Album wird ein Zusammenhang bewusst, der im Grunde jeder Musik, jedem Kunstwerk inhärent ist, der jedoch aufgrund der vermeintlichen Kohärenz des Rezipierten oft eingeebnet und letztlich vergessen wird – man hat es mit einem Sekundär- bzw. Tertiär-Medium zu tun, das auf eine ganze Reihe an Vorstufen rückverweist, und das man, falls notwendig, wie beim Zwiebelschälen oder beim Öffnen einer russischen Matrjoschka-Puppe erst im analytischen Rückblick in seiner Gänze kennenlernen kann. Die hier vorliegende Aufzeichnung, die sich auf insgesamt sechs LP-Seiten verteilt, ist die Konserve einer Soundperformance bzw. Installation, die Hecker zusammen mit einem Ensemble an Sprechern dieses Jahr auf der dOCUMENTA (13) aufgeführt hat. Die Show wiederum basierte auf einer essayistischen Abhandlung des iranischen Philosophen Reza Negarestani, einem Text namens „The Snake, The Goat and the Ladder (a Board Game for Playing Chimaera)“, der von mehreren Stimmen, weiblich wie männlich, auf Deutsch, Englisch und Farsī („Persisch“) rezitiert wird.
Mir selbst ist nur die äußere Schicht, die auf Vinyl gepresste Dokumentation bekannt, die den Text in stark de- und remontierter Form wiedergibt. Über die Vollständigkeit des sprachlichen Materials lässt sich also nur ebenso vage spekulieren wie über den genauen Inhalt des Traktats. In seiner hier präsentierten Form lässt er Motive eher kurz anklingen, spielt an, akzentuiert und lässt wesentliche Punkte – vermutlich teils gezielt, teils dem Zufall verpflichtet – offen. Sollten die Lesungen dem Primärtext entsprechen, so handelt es sich um ein von allerlei Wiederholungen und Anaphern geprägter halblyrischer Essay, der auf den ersten Eindruck weit auseinanderliegende Themen aus Philosophie und Naturwissenschaft verknüpft und assoziativ erörtert. Wer bei der Beschreibung an die Romane von Thomas Pyncheon denken muss, oder an undefinierbare Elaborate wie Felix Guattaris “Chaosmose”, der liegt zumindest nicht allz sehr daneben. Schon der Titel deutet eine starke Symbolhaftigkeit an, die Chimäre – im antiken Mythos ein monströses Mischwesen aus Mensch und Tier, in der Psychologie zudem ein Phänomen der Stimmrezeption, bei der die Stimme eine physische Qualität imaginieren lässt – kommt ebenso wie die angedeutete Spieltheorie zur Sprache.
Aber nicht nur dies: Die gesprochenen Textpassagen wurden in echofreien Räumen aufgezeichnet, um eine psychoakustische Wirkung zu erzielen, die sich der klanglichen Chimäre annähert. Erst danach kommt der Konzeptualist Hecker auch als Musiker und Produzent ins Spiel, um den Effekt durch eine Vielzahl an Bearbeitungsschritten zu steigern. Das Resultat lässt auch die ursprüngliche, mythologische Bedeutung des Begriffs anklingen, zumindest wäre monströse Fremdartigkeit keine allzu abwegige Assoziation angesichts der manipulierten Stimmarbeit, die mal ins Mechanische, mal ins Organische verfremdet und so immer „entmenschlicht“ wird. Den Text entzieht dies auf ganz unterschiedliche Art jeder gewohnheitsmäßigen Rezeption. Die Bearbeitungsweisen sind vielfältig, aber prinzipiell nicht einmal ungewöhnlich: Mal werden die Stimmen in räumlicher Breite gedehnt, mal in typischer Noisemanier verzerrt, Rauschen und metallische Klänge aus dem Repertoire der Störgeräusche ebenso produktiv mit eingebaut wie Rhythmen und netter Analogkitsch.
Entgegen meinem ersten Eindruck funktioniert die zuerst recht chaotisch anmutende Aufnahme auch ohne vollständige Durchdringung des Konzepts. Eine gewisse Aufgeschlossenheit vorausgesetzt ist es sicher interessanter und ergiebiger, sich die Aufnahme weniger „studierend“ zu erschließen. Von der Länge sollte man sich dabei nicht abschrecken lassen, denn für die jede logische Verknüpfung verweigernde Struktur gilt, was Thomas Bernhard über seine Romane sagte, oder Deleuze und Guattari über Kafkas „kleine Literatur“: Es gibt weder Anfang, noch Ende, noch narrative Kohärenz, stattdessen die Freiheit, von Knotenpunkt zu Knotenpunkt im stets neu kombinierbaren Textgewebe zu springen.
Label: Edition Mego