HENRYSPENCER: Saturn

Saturn, der äußerste Himmelskörper unseres Sonnensystems, der noch mit bloßem Auge zu sehen ist, besitzt in vielen Kulturen eine mythisch aufgeladene Symbolik. Im antiken Mythos ist er eine Verkörperung von Kronos, einem Vegetationsgott, der aufgrund des ähnlichen Namens häufig mit Chronos, dem Gott der Zeit verwechselt wird. Ihm zu Ehren veranstalteten die Römer jährlich die Saturnalien, einen sinnenfrohen Karneval, bei dem Ordnung und Hierarchie Kopf standen. Wie viele vitale Göttergestalten aus vorchristlicher Zeit erfuhren seine lebensfrohen Eigenschaften später eine Inversion ins Negative. Saturn symbolisiert fortan Vergänglichkeit, Sorge, Melancholie und Missgeschick. Aus dem Ährenmesser, seinem Attribute als Erntegott, wurde die todbringende Sense.

Mir ist nicht bekannt, inwiefern sich der kanadische Programmierer Henry Spencer, der sich privat mit dem Weltraum befasst und einer der bekanntesten Populärwissenschaftler in dem Metier ist, auch mit dem mythologischen Hintergrund des Gestirns befasst hat. Nach ihm jedenfalls hat der Franzose Valentin Féron vor ein paar Jahren sein Bandprojekt in etwas eigenwilliger Schreibweise benannt, und sein neues Album „Saturn“ stimmt Töne an, die stark an die Umsetzung eines Sagenstoffes erinnern – mit all den heroischen, aber auch entrückten Momenten, die man dabei erwarten mag. Richtig monumentale Fantasy liefert nur der wuchtige opening track, dessen postrockiges Saitenspiel mit der Zeit in kraftvolle, doomig angehauchte Metaleruptionen nach Art von Omega Massiv übergehen, während die monolithische Reinheit der Aufnahme einen guten Eindruck von der edlen und doch niemals glatten Klanggestaltung liefert, die sich durch alle Passagen des Longplayers zieht. An der Stelle muss man gleich den prominentesten Gast erwähnen, nämlich Old Lady Driver James Plotkin, der hier das finale Mastering übernahm und das Werk in eine Linie mit Earth, Isis, Nadja und Anemone Tube stellt.

Hat man die massive Wand aus kantigen Riffs und eruptivem Schlagwerk erst durchdrungen, registriert man schnell, dass Féron das Reich des Saturn mit sehr viel Sinn für stimmungsvolle Details ausgestaltet hat. Das etwas abgenutzte Wort „Klanglandschaft“ erfährt hier eine seltene Relevanz, denn die einzelnen Instrumentalstücke, allesamt Abschnitte eines zusammenhängenden Narrativs, entfalten durch Stereoeffekte und Stimmungsbilder eine stark räumliche Wirkung. Da er – nicht übertrieben, aber deutlich – mit bekannten Stilmitteln hantiert, sollten den imaginierten Bildern kaum Grenzen gesetzt sein. Dunkle, weiträumige Ambientflächen könnten das Panorama einer nächtlichen, menschenleeren Küstenlandschaft untermalen; wunderschön harmonisch, auch noch in Begleitung eines rituellen Pulsierens, bis zur Eruption plötzlicher Soundgewitter, bei denen sich all die unterschwellig spürbare Energie entlädt. Wer die Zusammenarbeit zwischen Locrian und Christoph Heemann schätzt, der wird auch hier schätzenswerte Momente finden.

Weiträumige Passagen lassen einen für Momente alle anfänglichen Metalassoziationen vergessen, und lassen doch kaum den Gesamteindruck des Disparaten entstehen. Fingerübungen auf dem E-Piano wie der Score zu einer altbackenen Naturdoku werden recht abrupt von einer anheimelnden Zupfgitarre unterbrochen: Die Wüste lebt, spätestens, wenn ein Harmonica-Spieler auf den Plan tritt. Doch die traumartige, surreale Klanggestaltung wirkt allzu irdischen Assoziationen entgegen, und als Cineast denkt man an manchen Stellen vielleicht eher an Lynchs „Dune“ als an den Gasplaneten mit dem Ring. Erfreulich ist zudem, dass die Musik bei all den durchaus kitschanfälligen Motiven ohne allen klanglichen Zuckerguss auskommt.

Mythos und Astronomie, Antike und Raumfahrt, „Space“ als Metapher für die Auslotung neuer Bewusstseinszustände: all dies lässt sich beim Eintauchen in Férons klangmalerisches Epos assoziieren, und meine Empfehlung richtet sich somit an eine große Bandbreite an Hörern. Vom Denovali Fest bis zum Dream Magazine wüsste Féron zu überzeugen, und ich frage mich ernsthaft, warum das Ganze in unseren Breiten noch so unbekannt ist. Die bei Trips + Träume erschienene Vinyl-Version erscheint in 200er Auflage.

A. Kaudaht

Label: Bookmaker Records/Trips + Träume