Als William Bennett vor nunmehr sechzehn Jahren den Sampler „Extreme Music from Africa“ herausbrachte, wurde das Projekt gerne augenzwinkernd als Lausbubenstreich abgetan, als das Machwerk eines Selbstdarstellers, der sich gerne mit obskuren Exotica umgibt und irgendwann die Grenzen seiner eher „weiß“ konnotierten Power Noise-Schublade erweitern wollte, die er irgendwann dann auch erfolgreich hinter sich gelassen hat. Doch unabhängig von all den naheliegenden Vermutungen, ob es sich bei den vertretenen Projekten schlicht um ihn selbst handele, kam der Compilation damals auch ein Verdienst zu – er deutete im Rahmen einer äußerst stark an die Kernländer der Industriegesellschaft und ihre Spätformen gebundenen Gegenkultur an, dass ihre Exponate auch in den Regionen der sogenannten Peripherie entstehen konnten, dass diese – trotz eines völlig anderen Stellenwerts von kulturellem Nonkonformismus – keineswegs epigonal sein müssen, und dass die südliche Hemisphäre in puncto Musikavantgarde mehr ist als ein mäßig zahlungskräftiger Absatzmarkt.
Ist das Interesse an solchen Geheimtipps erst einmal entfacht, fallen einem immer wieder (echte) Künstler aus Ländern jenseits nordatlantischer Regionen ins Auge, die keineswegs auf ihre Herkunft und den daran potentiell gekoppelten Exotenbonus reduziert werden müssen. Doch auch in Zeiten des in die Jahre gekommenden Internet werden solche Musiker oft übersehen, was nicht nur an schlechten Vertriebswegen und den Gewohnheiten von uns Nordlichtern liegt, sondern auch an den Gewohnheiten vieler Afrikaner, in Sachen PR die Ruhe weg zu haben. Umso erfreulicher, dass sich in den letzten Jahren immer wieder Protegees durch repräsentative Zusammenstellungen verdient gemacht haben. Im Grenzland zwischen noisigem Gitarrensound und improvisiertem Folk gilt Alan Bishop (Sun City Girls, The Invisible Hands) zurecht als wichtigster Kurator, sein Pendant in der elektronischen Musik ist C-Drík vom Berliner Label Syrphe. Unter seiner Regie entstand mit „30.2“ der erste fakefreie Sampler mit experimenteller, meist elektronischer Musik von unseren Nachbarn südlich des Mittelmeeres.
„30.2“ deckt den gesamten afrikanischen Raum ab, also auch Nordafrika und einige umliegende Inselstaaaten. Die Beiträge sind grob musikalisch sortiert, wobei sich – wohl eher zufällig und von einigen Zickzackkurven durchbrochen – auch eine gewisse geographische Gliederung von Nord nach Süd abzeichnet. Die erste Hälfte der Sammlung ist elektronisch ausgerichtet, von infernalischen Samplekollagen über Breakbeats bis hin zu aggressiver Elektronk liegt eine beachtliche Bandbreite vor, und gerade Hörer, die ein Faible für Electronica der 90er haben, könnten hier auf der Suche nach Tipps fündig werden. Der Ägypter Omar Raafat und der Tunesier mit dem Zungenbrecher-Namen Ynlf-X haben einen sehr cineastisch-narrativen Bezug zu Soundscapes, während ersterer unter ruhigen Beatansätzen düster und chaotisch zu Werke geht, kontrastiert der Kollege liebliche („orientalische“) Melodien mit hektischen Rhythmen. Kwerk aus Maurizius hat ein Faible für brachiale Synthies, beim genaueren Hinhören aber auch für witzige Raumklangspielereien. Mehdi Halib (Marokko) überzeugt mit experimentellen Klangkollagen, die traditionelle Perkussion einbauen. Hohner Comet aus Algerien steuert mit verzerrtem Rhythm Noise und Samples aus einem der redundantesten Konflike unserer Epoche zwei der besten Stücke bei.
Die Beiträge aus der Subsahara-Region sind meist weniger technoid, lediglich der gebürtige Madagasse Ujjaya erinnert mit seinen Keyboard-Flächen, die allerdings schon mit Stimm- und Sprachexperimenten kombiniert sind, an die nördlichen Kollegen. Ebenfalls vokallastig der Angolaner Victor Gama, dessen hörspielartiges „Mensagem a Luanda“ glatt Stoff für einen ganzen Longplayer beinhaltet. Spoken Words, die sich nicht zwischen Vortrag und theatralischem Chor entscheiden wollen, werden von ritueller Perkussion in ein Politszenario übergeleitet, in welchem eine englische Radiostimme von drastischen Kriegsereignissen kündet, bis das Ganze (ironischerweise?) in ein christliches Lied übergeht. Patrick Lombe von der Insel Reunion setzt auf befremdende Ästhetik, spielt mit Stereoeffekten und scheint seine Freude an leiernden und quietschenden Sounds zu haben. As Is aus Südafrika zelebriert am Saxophon seine eigene Vision eines freien Improvisationsjazz, bevor Victor Gama die Sammlung durch eine entrückte Klangfläche ausklingen lässt.
„Unsere“ Musik, gespielt von „den Anderen“. Das klingt borniert und wird wahrscheinlich kaum von einem Noise- oder Experimentalfan so geäußert werden. In einem Rezeptionssystem, in dem die Dichotonie zwischen Weltmusik und westlichen Klängen nach wie vor common sense ist, klingt das Echo dieses Satzes dennoch im Verborgenen mit, sobald man unreflektiert über Genremusik redet, die sich partiell bestimmten Fomen des Kulturimports verdankt. Freilich ist man sich im Klaren darüber, dass Ästhetik stets ein sehr migrationsfreudiges Phänomen war, und der routinierte Hörer wird mit der Zeit seinen „Afronoise“ entweder gerade aufgrund des Exotischen lieben oder aber den Punkt ausklammern und lediglich gute Musik darin sehen. Beides mag legitim sein, aber eine Auseinandersetzung mit den z.T. sehr unterschiedlichen Kontexten solcher Musik, selbst wenn sie unseren heimischen Bands ähnelt, wäre ein Schritt zu einem kompetenteren Zugang zu diesem Phänomen. Dazu liefert „30.2“ genügend Anregungen.
Label: Syrphe