Seit rund zehn Jahren macht das katalanische Einmannprojekt Ô Paradis nun von sich reden. Stilistisch nur schwer einzuordnen begeistern Demian Recio und seine wechselnden Mitstreiter einen immer noch überschaubaren, dafür aber umso enthusiastischeren Hörerkreis mit ihrer eigenwilligen psychedelischen Popmusik zwischen Electronica, iberischer Folklore und sorgsam arrangierten Sampling-Montagen. Dabei ist die Musik nicht nur beeindruckend in ihrem Facettenreichtum, sondern auch bewegend schön, was nicht zuletzt auf Demians warmen Baritongesang zurückzuführen ist, der mit einem Gespür für berührende Melodien eine ganze Stimmungspalette zu evozieren vermag: Mal wehmütig und verträumt, mal sinnlich und dekadent, aber auch beschwingt, euphorisch und abenteuerlustig geht es in der Welt dieses Ausnahmeprojektes zu. Veränderungen im Klangbild gab es über die Jahre vor allem im Kleinen. So rückten z.B. die anfangs charakteristischen Orgeln und Pauken mehr und mehr in den Hintergrund und wichen einem leichteren, weniger breiten Sound. Kontrastreiche Brüche gab es allerdings auch, man vergleiche nur die raue Abgründigkeit von „La Boca Del Infierno“ (2005) mit dem vielleicht besten und eingängigsten Album der Band, welches eigentlich gar keines ist, nämlich der zweiten Seite ihrer Raritäten-Sammlung „Las Nubes Que Mueren“ (2006), auf der sich einige der großartigsten Songs der Gruppe finden. Beide erschienen beim italienischen Punch-Label und markierten nach den beiden Zusammenarbeiten mit Nový Svet einen weiteren Höhepunkt in der Bandkarriere.
Nach dieser Phase, der noch das vielleicht ausgereifteste Album „Cuando El Tiempo Sopla“ (2007) zuzurechnen ist, wurde es zunächst etwas ruhiger um die Band – nicht, dass Demian unproduktiv gewesen wäre, nur erfolgte sein Labelwechsel auf die andere Seite des Atlantik fast ein wenig unbemerkt, weshalb das letzten Sommer beim Texanischen Tourette-Label erschienene Album „Pequeñas Canziones De Amor“ hierzulande fast ein bisschen untergegangen ist. Gerade im Vergleich mit „La Boca Del Infierno“ fällt hier der überwiegend melodische Charakter auf, sowie eine klangliche Klarheit, die sich eher auf das Wesen der besagten Compilation zu besinnen scheint. Nur an einer Stelle der „Kleinen Lieder von der Liebe“ bricht die noisige Schroffheit mit überraschender Plötzlichkeit wieder herein und kontrastiert mit der hellen kindlichen Stimme von Rosa Solé (Circe). Auch hier finden sich wieder lupenreine Hits – das im Duett mit der deutschen Sängerin Conny vorgetragene Bob Dylan-Cover „It Aint Me, Babe“ sticht hervor, und vor allem „Mejor Que La Muerte“ vermag ebenso starke Glücksgefühle zu wecken wie seinerzeit „Medio Angel“. Und beim Hören erwische ich mich nicht zum ersten Mal bei der Frage, warum Ô Paradis nicht noch viel berühmter sind, wohl wissend, dass Starruhm vermutlich das Letzte ist, das Demian anstrebt.
Ebenfalls aus dem Hause Tourette erreicht mich dieser Tage ein neues Lebenszeichen der Band sowie das Debüt eines weiteren viel versprechenden Projektes aus der Region um Barcelona. Es handelt sich dabei um zwei Minialben, die sich schon auf den ersten Blick als verschwistert offenbaren. Doch schon nach einem kurzen Höreindruck wird klar, dass man es bei diesen Zwillingen keinesfalls mit eineiigen zu tun hat. Durch ein schlichtes Bändchen zusammen gehalten demonstrieren die beiden Scheiben ihre Zusammengehörigkeit zunächst durch das stilvoll figurative Artwork von Demians Vater Ricard Recio, dessen Motive einigen von zwei späten Nový Svět-Veröffentlichungen her bekannt sein dürften. Im Falle von Ô Paradis’ „La Corte Del Rey Pescador“ betitelter EP zeigt das Cover den Torso einer wächsernen Christusfigur samt Dornenkrone und Wundmalen. Sie liegt scheinbar leblos auf einem bunten Teppich aus zerfließenden psychedelischen Mustern. Neben ihr findet sich ein umgestürztes Weinglas, dessen Inhalt statt zu fließen eher zu entströmen scheint – was nebenbei verdeutlicht, dass das Beinahe-Stilleben die Figur und das Objekt unmittelbar nach dem Augenblick des Fallens zeigt. Der Anblick evoziert somit eine Atmosphäre der Melancholie und der Dramatik und weckt im Zusammenspiel mit dem Titel Vorstellungen einer märchenhaften Erzählung – ein Eindruck der angesichts mancher Songtitel – „La Verdad De Los Peces“ („Die Wahrheit Der Fische“), „El Paradiso Perdido“ („Das Verlorene Paradies“), „El Final De Un Reino“ („Das Ende Eines Königreiches“) – auch für denjenigen bestehen bleibt, der nur Bruchstücke des Katalanischen versteht.
Hat man die Schwelle der sprachlich-optischen Präsentation erst einmal überschritten und taucht in die Musik ein, dann dürfte man angesichts des beschriebenen Ersteindrucks kaum enttäuscht sein, denn die diesmal gut zwanzigminütige Reise durch Demians Klanguniversum erfüllt sehr gut, was der äußere Rahmen verspricht. Dabei werden durchaus vertraute Ô Paradis-Motive verwendet: „El Anhelo“ („Die Sehnsucht“) eröffnet den Reigen mit Vogelgezwitscher und einer kleinen Welt aus gesampleten Piano- und Gesangspassagen aus vergangener Zeit. Ein jazziger Basslauf, der so erdig klingt wie die meisten Ingredienzien von Demians Musik, leitet über in „La Verdad De Los Peces“, den ersten richtigen Song mit Ohrwurmqualitäten. Geprägt ist diese Nummer von einem zunächst gebrochen zuckenden, später etwas geradliniger werdenden Beat, der Assoziationen zu typischen Triphop-Sounds der 90er weckt. In der Vergangenheit führten solche Rhythmen bisweilen schon zu entsprechenden Verlegenheitsrubrizierungen. Das Lied vom Verlorenen Paradis zeigt die Band dann mit E-Piano und Akkordeon von ihrer wehmütigsten Seite, während monotones Glockenläuten und hintergründiges Dröhnen, welches sich wie ein Gemisch aus Motoren und Frauenstimmen anhört, auch hier jeglichem Eindruck des „nur“ Schönen oder gar Süßlichen entgegenwirkt und dem Ganzen einen verzweifelten Beiklang verleiht – der besungene Ort ist eben nicht nur paradiesisch, sondern auch verloren, und spätestens hier verfestigt sich die Vermutung, dass es sich um eine Geschichte vom Untergang handeln muss. „Solo Un Desierto“ („Nur eine Wüste“) führt diese Richtung fort und ist so ein weiterer Song vom Himmel, der auf der Erde entstand, wie Demian das Spannungsverhältnis der Ô Paradis-Stimmung einmal treffend in Worte fasste.
Erst das noisige „El Final De Un Reino“, wohl derjenige Akt, der sich mit der unumkehrbaren Zerstörung befasst, bildet einen musikalischen Bruch und legt den Sampling-Charakter, der Ô Paradis generell auszeichnet, gnadenlos offen. Mit Schleifgeräuschen leitet er über in das treibende „El Trono De La Razon“ („Der Thron Der Vernunft“), welches mit hämischem Gelächter, entmenschlichten Schreien und nonchalanter Gesangslinie zur ironisch-fatalistischen Feier der Entzauberung anstimmt: Ô Paradis von seiner dramatischsten Seite, aber auch von seiner am wenigsten „schöngeistigen“ – am Ende befallen Insektenschwärme einen Kadaver. Die kurze Koda „Mi Dios“ („Mein Gott“) ist fast ein Hidden Track und bringt nach einer kurzen Pause die Geschichte zu einem zwiespältigen Abschluss: Das in dem atonalen Geräuschwall destruierte Eden scheint eben nicht völlig verloren, scheint in einer verschwommenen Erinnerung weiter zu leben. Und doch klingt es, als geben die monotonen Glocken den Klang wundgescheuerter Nervenenden wieder, und Demians manipulierte Stimme mutet hier an wie eine Telefonnachricht aus einer entfernten Welt. „Möge Gott uns auf diesem Irrweg begleiten“, so in etwa lautet das Motto der Aufnahme, wohl bezogen auf ein Leben in einer allzu profanen Realität. Insgesamt ist diese kurze wie intensive Rite de Passage um Begehren, Verlust und Weiterleben sicher eine noch tiefergehende Beschäftigung wert und mag die unterschiedlichsten Reflexionen rechtfertigen – musikalische, theologische, auch psychoanalytische mitunter. Doch unverkopft, wie die Musik ist, möchte ich sie in erster Linie als Erlebnis empfehlen.
Empfehlenswert ist auch der Zwilling dieser kleinen Kostbarkeit. Escama Serrada, auf deutsch so viel wie „Gezahnte Schuppe“, ist das junge Projekt eines gewissen Sergio Méndez, der „La Corte Del Rey Pescador“ mit einigen Samples bereichert hat und dessen wiederum von Demian gemasterte EP „La Reina Está Mala“ („Die Königin Ist Krank“) den zweiten Teil der kleinen Reihe darstellt. Statt von einem Zwilling könnte man auch von einem Wechselbalg sprechen, denn die Geschichte von der kranken Königin gebärdet sich weitaus abstrakter als das Gegenstück und entpuppt sich schon nach wenigen Minuten als ausgesprochen turbulente Sampling-Orgie. Dem Titel und dem Artwork nach scheint es sich zunächst um ein weibliches Pendant zu handeln – letzteres zeigt die (diesmal untere) Körperhälfte einer liegenden Frauengestalt, umgeben von blauem Dunst. Jedoch heißt das nicht, dass sich auf „La Reina Está Mala“ offenkundige Motive finden, die dem Klischee nach dezidiert weiblich konnotiert wären – es sei denn, man ginge so weit, das ständige Im-Fluss-Sein der Struktur, die permanente Veränderung des Klangbildes von einer Metamorphose zur nächsten derart zu deuten.
Doch von vorn: Das erste der sieben unbetitelten Stücke beginnt zunächst recht brav mit einer wohl gesampleten Westcoast-Ballade – allerdings hält die beschauliche Atmosphäre nur einen kurzen Moment an und die vertraut anmutende Musik wird alsbald von einem metallischen Loop und einer martialischen Snaredrum übertönt. Unweigerlich denke ich dabei an eine Stelle in Current 93s „Dawn“, auf der Barry McGuire die Mamas And The Papas mit einer Schleifmaschine ermordet. Doch der rastlose Méndez verweilt auch hier nur kurz und weiter geht die ereignisreiche Fahrt durch zusammengewürfelte Klangfragmente unterschiedlichen Ursprungs: Ausschnitte aus Radio und Fernsehen, vielleicht einer Werbesendung entnommen, der Schall von Hörnern, enervierendes Pfeifen und ebenso anstrengendes Säuglingsgeschrei. Dazu Tierstimmen, verzerrte Sprachsamples, Gluckern, Dröhnen und Rauschen in unterschiedlicher Lautstärke und Intensität. Mahlend, stampfend, pochend ist diesen Klängen primär der dissonante und groteske Charakter gemeinsam. Mit Musique concrète ist das bereits verglichen worden – ein Aspekt, den Escama Serrada genau genommen mit Ô Paradis teilt, wenn auch in äußerst verschiedenen Graden der Offensichtlichkeit und mit komplett anderer ästhetischer Zielsetzung.
Heraus stechen eine kurze tanzbare Synthipopeinlage, die an Gruppen wie Dead Or Alive erinnert, der kurze Auftakt zu einer Rockballade und zwei in Méndez Muttersprache gesungene Passagen, welche die Brücke zu Ô Paradis noch am deutlichsten schlagen, vorausgesetzt sie gleiten nicht mal eben in heißeres Krächzen und Schreien ab. Alles in allem kann man „La Reina Está Mala“ als eine von allerlei plötzlichen Brüchen und Wendungen durchsetzte Irrfahrt betrachten, deren narrativer Verlauf immer wieder an die im Motto Ô Paradis’ anklingende Odyssee erinnert. Mir persönlich hat sie beinahe ein bisschen zu viel von surrealem Tour de Force-Ritt und ich vermute, dass die ganzen Ereignisse auf Albumlänge eine noch subtilere Wirkung entfalten könnten. Vielleicht werden wir genau das ja in näherer Zukunft erfahren, wobei ich mir bei dem Projekt ebenso gut einen komplett andersartigen Nachfolger vorstellen könnte. Wie dem auch sei, ich hoffe sehr auf eine Fortsetzung, denn aller Reizüberflutung zum Trotz schafft es Méndez, den Spannungsbogen dieser komprimierten Kollage konsequent zu halten und präsentiert so einen gelungenen und kurzweiligen Einstand.
Label: Tourette