Auch wenn das Covermotiv vielleicht etwas anderes suggeriert, ist mit dem alten Rom, das Ardecore in ihrem dritten Studioalbum besingen, nicht die antike Weltstadt gemeint, sondern das Rom des frühen 20. Jahrhunderts. Ardecore haben in Deutschland bislang nie wirklich Fuß gefasst, obwohl sie in ihrer italienischen Heimat eine bekannte Größe sind. Seit Jahren stehen sie bei einem großen „Indie” unter Vertrag, ihr Name fällt in einheimischen Feuilletons und prangt von glänzenden Titelseiten, einzelne Mitglieder standen bereits mit Leuten wie Mike Patton und Peter Brötzmann auf der Bühne.
Als die Combo sich kurz nach der Jahrtausendwende aus Musikern der legendären Jazzcore-Band Zu rekrutierte, hielten viele ihr Konzept für eine einmalige Sache – auf ihrem Debüt „Chimera“ dokumentierten und reanimierten Ardecore alte, semifolkige Gassenhauer des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts, die alle aus Rom und dem römischen Umland stammten. Stil, Slang und die anekdotenreichen Texte wurden entgegen der gerade aufkommenden Retromode zwar der neuen Zeit angepasst und waren doch von dem ganz eigenen Flair der Region und der Zeit durchdrungen und klangen wahrscheinlich für die meisten Eingeweihten schon auf den ersten Takt nicht einfach italienisch, sondern spezifisch römisch. Es war eine Musik, die man hierzulande gerne mit dem in Italien eigentlich wenig gebräuchlichen Wort Chanson umschreibt, Giampaolo Felici trug seinen wehmütig-theatralischen Gesang mit einer derben Note vor, und nicht unpassend dazu war an vielen Stellen ein erdiger Schuss Blues zu hören.
Spätestens mit dem Doppelalbum „San Cadoco“ war klar, dass Ardecore als feste Band gelten darf, zumal ein paar Veränderungen die für langfristige Projekte typische Dynamik aufwiesen. Der Sound war etwas schwerer, die Stimmung feierlicher, neben Felici war die auch aus anderen Projekten bekannte Sängerin Sarah Dietrich sehr präsent, und eine Zeile lang durfte man sich sogar über die Stimme eines gewissen David Tibet freuen.
Das vor kurzem erschienene „Vecchia Roma“ soll hier mehr vorgestellt als beurteilt werden, denn für eine wirkliche Expertise sollte man viel mehr über die römische Songtradition wissen und v.a. die Sprache – auch in ihren regionalen und slanghaften Besonderheiten – beherrschen. Laut Eigenangabe geht es einmal mehr darum, einer im Verblassen befindlichen Songkultur und ihren typischen Themen und Diskursen ein Denkmal in der Erinnerung zu setzen, was ein Kollege andernorts mit dem Verdienst der seit langem etablierten Balkanmusik oder des Irish Folk vergleicht. Die Songs stammen größtenteils aus dem Rom der Zwischenkriegszeit, eine Zeit voll wirrer Umbrüche, voll tragischer Entwicklungen – wie sehr sich das Lebensgefühl zwischen den ockergoldbraunen Fassaden und die Selbstbilder der Einheimischen von den heutigen unterschieden, rechtfertigt für den Volksmund die Rede vom „alten“ Rom, die Ardecore für den Titel übernahmen.
Es mag überraschen, dass man gerade auf diesem Album – zuzüglich zu den gelungenen Interaktionen aus Akkordeon und mediterranen Zupfgitarren – besonders stark an amerikanische Musik erinnert wird, sei es durch die Jahrmarktsorgel im eröffnenden „Girasole“, durch einen Drummer, der in „Serenatella amara“ mit rumpeligem Groove gegen wehmütige Mandolinen ankämpft und die Schule des Jazz nicht verleugnen kann oder einmal mehr durch den rauen Bluestouch des Sängers. Ich weiß nicht, ob sich „Serenata a Maria“ auf einen gleichnamigen Film aus den Fünfzigern bezieht, jedenfalls ist dieses Stück mit seiner Mixtur aus Euphorie und Schwermut und seinen mitreisenden Tempowechseln für mich der Höhepunkt des Albums.
Die sehr unterschiedlichen kulturellen Einflüsse in ihrer Vermischung mit regionalen Eigenheiten entsprechen nicht nur dem Zeitgeist schon der klassischen Moderne, sie zeigen ein weiteres Mal, dass Ardecore nicht einfach eine Folkband sind – vielleicht beherrschen sie diese alte Musik gerade deshalb so gut, weil sie eben auch anderes können. (U.S.)
Label: Goodfellas