DOC WÖR MIRRAN feat. CONRAD SCHNITZLER: Rojo

Ein eigenwilliges Kollektiv, das sich seit Jahrzehnten um einen nimmermüden Bandleader schart und dadaistische Soundkollagen irgendwo zwischen Industrial, freier Improvisation und Musique Concrete mit Art brut-Illustrationen und merkwürdigen Songtiteln kombiniert – die Rede ist nicht von Nurse With Wound, sondern von der deutschen Formation Doc Wör Mirran um den in Fürth lebenden Joseph B. Raimond. In der Vergangenheit beteiligten sich Größen wie Frans de Waard (Kapotte Muziek, Beequeen) und Asmus Tietchens an ihrer Musik, und gerade erscheint eine Reihe an Aufnahmen, an denen der vor drei Jahren verstorbene Conrad Schnitzler (Kluster, Tangerine Dream) mitwirkte.

Ich bin nur auszugsweise mit dem enormen Werk der fränkischen Multimedia-Combo in Berührung gekommen und kann daher Schnitzlers Anteil an der Stilausrichtung von “Rojo” kaum beurteilen und versuche daher, mich dem Werk so unbefangen wie einem Debüt zu nähern, wohl wissend, dass es hier um die Arbeit honoriger Menschen geht. Hintergrund der Veröffentlichung ist jedenfalls, dass Raimond und Schnitzler in den Jahren vor dem Tod des älteren Kollegen in einem regen Kontakt waren, Raimond einige Soloalben Schnitzlers auf seinem Label Marginal Talent herausbrachte. Schnitzler ließ ihm auch ein Menge an unfertigem oder zumindest unveröffentlichtem Material zukommen, mit dem die Band nach eigener Vorstellung verfahren sollte. Irgendwann begann die Arbeit daran, und das Resultat ist vielleicht Schnitzlers interessanteste posthume Kollaboration.

Lässt man die ersten beiden der zehn unbetitelten Tracks auf sich wirken, könnte einem “Rojo” noch etwas unentschieden erscheinen, denn die Stücke sind in der Machart und Stilausrichtung recht unterschiedlich geraten – da wäre einmal das warme, nur gelegentlich durfch Hochfrequentes durchbrochene Dröhnen, das den Hörer zum regressiven Schwimmen durch vibrierende ambiente Klangflächen einläd. Was darauf folgt, ist ein nur auf den ersten Blick heillos wirkendes Chaos, dessen raumklangliche Gestaltung sich jedoch schnell offenbaren sollte. Diverse Metallteile wirbeln durcheinander, allerlei Quietschen und scheinbar willkürlich gezupfte Saiten sorgen für zusätzliche Dissonanzen, ein Kind zetert Unverständliches, bis dass ein Sound, der wie die Mischung einer Kuckucksuhr und Bernard Hermans Untermalung der Duschszene in “Psycho” klingt, das Chaos beendet.

Mit der Zeit wird immer deutlicher, dass die episodische Abfolge von traumwandlerisch gleitenden Passagen und kakophoner Unruhe ihre eigene Logik aufweise, zumal die beiden Komponenten sich mit der Zeit immer mehr durchdringen. Dabei hält die Musik fast schon ein Übermaß an Assoziationen bereit: Jazz, der sich meist in nur angedeuteten Bass- und Bläsermotiven ausdrückt, orientalisch anmutende Melodien eines Tenorsaxophons, metallische Detonationen und raue Synthies aller Art und nicht zuletzt Reminiszenzen an eine dreißig Jahre Alte elektronische Avantgarde, die zeigt, dass Retromusik auch ohne hippes Posertum funtionieren kann.

“Rojo” ist die erste Veröffentlichung aus einer Reihe an Kollaborationen mit Schnitzler und die bislang einzige auf einem physischen Tonträger, weiteres wird in digitaler Form folgen. (U.S.)

Label: Tourette