Es wäre eine interessante Frage für sich, warum es besonders in der amerikanischen Populärkultur immer wieder Musik gibt, die sowohl Elemente der Kirchenmusik enthält als auch an die Klänge von Jahrmarkt und Zirkus erinnert. Liegt es wirklich nur daran, dass beide Bereiche eine Affinität zu Orgeln haben? Hat Hollywood seinen Teil dazu beigetragen, da es in besseren Zeiten das Sakrale allzu gerne in unfreiwillig karnevalesker Form auf die Leinwand brachte? Oder gibt es so etwas wie eine geheime Verbindung zwischen diesen auf den ersten Blick so verschiedenen Heterotopien, in denen die Menschen für Momente Zuflucht vor ihrem Alltag suchen und sich ganz unterschiedlichen Illusionen hingeben – und dabei doch die Chance haben, mehr über das Leben zu lernen, als in der fatalsten aller Illusionen, nämlich der funktionalisierten Entfremdung, die man gemeinhin Normalität nennt? Vielleicht ist es Zufall, doch der Gedanke, der mir schon das eine oder andere Mal bei Baby Dee kam, kommt mir bei Kingdom of Heaven noch eindringlicher in den Sinn.
Gott und Teufel, Erlösung und Untergang, Sideshows und Superhelden, die erhabene Größe der Antike und schäbige Stundenhotels im Moloch LA – dies sind die Dinge, die dem Debüt von Kingdom of Heaven ihr textliches Gepräge geben, und wer zumindest die bekanntere Hälfte des Duos kennt, wird sich über die Themenwahl nicht wundern, sondern das eine oder andere Deja-vu erleben. Kingdom of Heaven entstand, als Nikolas Schreck, der in seiner Berliner Wahlheimat v.a. als buddhistischer Lehrer einen Namen hat, seinen alten Freund James “Filth” Collord kontaktierte. Der spielte in der Frühphase von Radio Werewolf, aus der die meisten wohl “Buried Alive” oder den Auftritt im Film “Mortuary Academy” kennen, Bass. Deja-vu heißt an der Stelle aber nicht, dass die beiden nun in Richtung Death Rock unterwegs wären, auch wenn Schreck als Sänger, der immer ein bisschen wie David Bowie mit Riesenbrust klingt, gar nicht umhin kann, eine doppelironische Persiflage auf so etwas anzustimmen. Was die beiden aus ihrer Frühphase wiederbeleben, ist vielmehr die Lust an einer schönen dunklen Cartoonwelt und der Stimmung alter B-Movies, die man als Teenager auf ganz eigene Art ernst genommen hat.
Musikalisch greifen Schreck und Collord tief in die Kiste der amerikanischen Popkultur, wobei eine düstere Form dessen, was man in den 50er und 60ern Rhythm and Blues nannte (und mit heutigen R’n'B wenig zu tun hat), einen Haupteinfluss ausmacht – mögen andere die Mixtur aus Barpiano, Hammondorgel und einer immer etwas zu mächtigen Drumsection noch so sehr mit dem Stempel “Prog” versehen. Dass die Orgel trotz ihres Jahrmarktflairs immer auch an den Gottesdienst erinnert, dankt sich nicht nur Schrecks Gesang, sondern auch den Geschichten, die er zum besten gibt. Dass die immer am schmalen Grad zwischen Mystizismus, Pulp und der Erkenntnis, dass ohnehin alles nur Illusion ist, entlanglaufen, bündelt sich schon in einer Zeile wie “I dreamt I swam in the river jordan, a bottle of booze in my hand” aus “The Ballad of Lurleen Tyler”. Doch nicht nur in dieser Geschichte eines dubiosen Predigers und Mädchenkillers dreht sich alles um den doppelbödigen Charakter von Illusionen: Wird in “Farewell to the Carousel” der Abschied von der schönen Parallelwelt eines Jahrmarktes betrauert, so ermahnt die Sci Fi-Nummer “In Dreamland” eindringlich zum Aufwachen aus der medial vermittelten Bewusstlosigkeit.
Viele Stücke kreisen um biblische Themen oder die mystischen Aspekte der antiken Welt, oder sie erfreuen sich an der Exotik eines geheimnisvollen Orients, was in “Midnight in Cairo” dann auch musikalich seinen Niederschlag findet. Aber sie tun dies stets in der Art launiger Räuberpistolen, und man kann sich die Geschichten gut als Comic vorstellen, der konsequent den Stil des Wachturms der Zeugen Jehovas persifliert. Da eine der schönsten Illusionen die romantische Liebe ist, darf auf dem Album auch ein lupenreiner Schmachtfetzen nicht fehlen, und “The World for You” ist wirklich ein Lovesong der Superlative, bei dem man sich immer wieder fragt, ob es da nicht doch eher um eine Gottheit geht. Der Song über eine Liebe, die alle Wunder der Welt nicht aufwiegen, könnte jedenfalls ein Hit aus einem Broadway-Musical sein und wäre in einer besseren Welt Daurbrenner in allen Karaokeshows.
In einem Schachtelsatz: Kurzweil pur, großer Spaß und manchmal mehr als das, hoffentlich bald auch auf Vinyl erhältlich und außerdem live zu sehen in allen Gottenshäußern und Zirkusmanegen mit Rang und Namen. (U.S.)
Label: KOHMUSIC ICBM