Auf seinem neuen Tape zieht uns Anemone Tube kompromisslos in den Strudel einer dionysischen Welt. Man muss nicht viel über den Mythos des griechischen Wein- und Rausch-Gottes wissen, um die abgründige Natur dieses Strudels zu begreifen, denn zumindest die ersten drei Stücke der vorliegenden EP lassen an dieser keinen Zweifel: Formlos und chaotisch wird die in Sound gegossene Welt des Dionysos gezeichnet, doch manchmal auch überraschend einfach in ihrer derben, verrauschten Musikalität. Man mag die Atmosphäre der vier Tracks dunkel und zum Teil niederdrückend finden, wenn man Rausch und Sinnlichkeit zu sehr mit Frohsinn assoziiert. Doch ganz abgesehen davon, dass dies eine Frage des Blickwinkels ist, gibt es im Laufe des 21minütigen Tapes auch eine deutliche Entwicklung.
Der eröffnende Titel-“Song“ trägt wie zur Warnung den Zusatz „Le Pont de Diable“, und ich mag über einige Minuten kaum zu entscheiden, was genau die Musik so diabolisch und aufwühlend macht – ist es die unerträglich monotone, schabende Grundierung des Feedback-Noise, dessen wellenartige Variationen die Sogwirkung nur verstärken, da der Ausweg, den sie suggerieren, letztlich ausbleibt? Oder sind es die digitalen Hochtöner, die sicher nicht ohne Absicht an klassische Gitarrensoli aus den Annalen diverser Metal-Genres erinnern? „Le Diable, Probablement“, antwortet die Stimme von Tina Irissari aus dem gleichnamigen Film von Robert Bresson, und nach dieser fragwürdigen Antwort scheint sich tatsächlich eine gewisse Harmonie einzustellen.
In der Folge geht es zunächst nur in etwas variierter Klangfarbe weiter, und bei dem intensiven „The Tower of Evil II (die letzte Weisheit)“ wird wie es scheint eine ganze Welt mit in den Strudel hineingezogen. Aus undefinierbaren Geräuschen, die stellenweise an Verzweiflungsschreie gemahnen, kristallisiert sich immer mehr das grausame Fazit des Kentauren in Pasolinis „Medea“ heraus: „…denn es gibt tatsächlich keinen Gott“. Nach der lieblichen Spieluhr-Melodie und einer gesampleten Dialogpassage aus “Nausicaa”, die das kurze Interludium „Terror of Nature“ formen, befindet man sich bereits in „In The Vortex of Dionysian Reality II“, in dem das raue Dröhnen von angenehm ruhigen Streichern bezwungen wird. Doch die sind nur ein Vorgeschmack auf das finale „Evangelium der Weltharmonie“, das ohne die dunklen Klangfarben zu suspendieren in einem kosmischen Klingen und Rauschen kulminiert.
Der Titel des letzten (in Zusammenarbeit mit Post Scriptvm entstandenen) Tracks mag auf den ersten Blick prätentiös klingen, doch er charakterisiert nicht nur diesen harmonischen Ausklang ganz gut – er führt auch direkt ins Zentrum von Friedrich Nietzsches Theorie des Dionysischen und schließt somit auch den mit dem Titel der EP eröffneten Kreis. In frühen Schriften wie den “Unzeitgemäßen Betrachtungen” und „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ beschreibt der Denker die menschliche Existenz als tragisch zwischen den beiden Polen des Apollinischen und des Dionysischen hin und hergerissen. Während Apoll für das Klare, Produktive steht, verkörpert Dionysos das Chaos und die rauschhafte Destruktion menschlicher Identität. So negativ das klingen mag, steht diese Polarität dennoch für eine Balance, die das Leben – in all der morbiden Tragik, die ihm anhaftet – erst in all seiner Vitalität stattfinden lässt.
Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung, durch den Einfluss der christlichen Kirche und ihrer von Nietszsche so bezeichneten Sklavenmoral und erst recht durch den Funktionalismus der modernen Welt, hat der Mensch den positiven Bezug zum Dionysischen immer mehr verloren. Erst im Musiktheater Wagners sah der junge Philosoph das alte Gleichgewicht wieder hergestellt: „Jetzt, bei dem Evangelium der Weltharmonie, fühlt sich Jeder seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnisvollen ur-Einen herumflattere. Singen und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit“, wie es in Nietzsches etwas hochtrabender Diktion heißt.
Anemone Tube begnügt sich in vagen Andeutungen, erklärt nichts, sondern lässt die Assoziationen, die seine Anspielungen hervorrufen, ihr Eigenleben entfachen. Dennoch bleibt der Eindruck, dass im Laufe der gut zwanzig Minuten eine kleine Höllenfahrt inszeniert wird, die in einem für Anemone Tube-Verhältnisse seltenen Hafen der Harmonie endet. Zum „Tower of Evil“, zur Bedeutung Pasolinis und den gesellschaftskritischen Implikationen des Musikers ist dabei aber längst noch nicht alles gesagt, aber das aktuelle Anemone Tube-Kapitel ist mit dem Tape auch lediglich eröffnet. Man darf also gespannt sein. (U.S.)
Label: The Epicurean