Die ersten sechs Minuten dieses Werks sind nichts für Whitehouse-geschädigte Ohren: Ein auf- und abebbender Ton von hoher Frequenz entfaltet sich über einen längeren Zeitraum, um irgendwann in eine Art Zwitschern überzugehen, das von Zeit zu Zeit von metallischem Rasseln übertönt wird. Ab hier wird’s dann schön: Immer dichter und maschineller gestaltet sich das klangliche Material mit der Zeit, offenbart eine Fülle an Details, die in den dramatischsten Momenten wie eine Schuttlawine auf den Hörer einprasseln.
Die Rede ist von „La Légende d’Eer“, zusammen mit „Persepolis“ eine der längsten elektroakustischen Arbeiten, die der Komponist Iannis Xenakis in den 70er Jahren komponierte. Das Werk wurde gerade neu gemastert und herausgebracht und blickt auf eine umfangreiche Geschichte zurück.
„La Légende d’Eer“ ist der musikalische Teil eines im Rahmen der Eröffnung des Pariser Centre Georges Pompidou konzipierten Multimedia-Events „Diatope“, das außerdem Texte, Arbeiten mit Licht und – wen wundert es bei Xenakis, der neben der Musik die Baukunst studierte und mit Le Corbusier arbeitete – Architektur beinhaltete. Die Musik wurde zusammen mit dem Westdeutschen Rundfunk in Köln produziert und zuerst separat im Bochumer Planetarium uraufgeführt. Sie gilt als eine der klassischen Wegmarken der Tapemusik und hat sowohl im akademischen Musikkontext als auch in der DIY-Welt der Subkulturen ihre Spuren hinterlassen.
Xenakis arbeitete mit diversen 8-Spur-Tapes, auf denen neben computererzeugten Sounds etliche Klänge aus seinem Archiv an Aufzeichnungen enthalten waren – hinzu kamen Klangspuren, die im Studio des WDR aufgenommen wurden. Bei diesen Aufnahmen wirkten mehrere Studiomusiker mit, u.a. am Bass und an Synthies, so steuerte der Toningenieur Volker Müller den enervierenden Fiepston bei, der das Werk auch wieder zum Abschluss bringen wird.
Die technischen und musiktheoretischen Seiten dieser Musik müssen – wie mehrfach geschehen – andere beurteilen, was mich als Nerd beeindruckt, ist wie überraschend und unberechenbar diese Musik auch nach vierzig Jahren und hunderten von Merzbow-Platten noch ist. Während sich dichte und lichte Passagen, lautes und reduziertes Volumen in erwartbarer Unregelmäßigkeit abwechseln, ist das Tempo nie ganz greifbar, da sich immer wieder andere der vielschichtigen Spuren als vorantreibend erweisen. Auch die Spannung aus maschinell-synthetischen und organischen Klängen bleibt gewahrt, wenngleich es immer Momente gibt, in denen die Musik ausgesprochen technoid anmutet oder regelrecht in Harshnoise kippt. Archaisch anmutende Abschnitte von beinahe folkig-ritueller Prägung bilden den Gegenpart dazu.
Die neue Version, auf Stereo abgemischt von Martin Wurmnest und gemastert und geschnitten von Rashad Becker, basiert auf der 8-Spur-Version, die Xenakis selbst bei einer Aufführung in Darmstadt 1978 verwendet hatte. Erstmals ist das Werk nun als LP und Download zu haben. (U.S.)
Label: Karlrecords