John Cage brachte seine drei „Song Books“ 1970 zunächst einzeln heraus, zwei Sammlungen mit zusammen zweiundneunzig Solostücken für Vocals sowie eine dritte, die lediglich aus Anweisungen bestand, Textmaterial, das aus Zitaten von Thoreau, Satie, Duchamp und anderen bestand und wohl auch in den Songs selbst vorkommt. Mit hundertprozentiger Sicherheit kann man das aber nicht sagen, denn die Vocals in den kurzen Stücken sind nicht gerade zum auswendiglernen und mitsingen gedacht, und überhaupt – wer John Cages offene, Konventionen durchbrechende musikalische Herangehensweise kennt, der ahnt, dass „Song“ hier ein sehr weit gefasster Begriff ist.
Die neueste Interpretation wurde dieses Jahr in Berlin eingespielt – Reinhold Friedl, Leiter des Solistenensembles zeitkratzer, steuert neben Vocals eine Vielzahl an Sounds bei, Rashad Becker kümmert ich um die Elektronik und fungiert zudem als Studiotechniker. Mit unterschiedlichen Mikros, eigens gebauten Instrumenten und verschiedenen Geräuschquellen aus der Schrottkiste halten sich die beiden zwar an die ursprüngliche Reihenfolge der Songs, setzen diese aber mit einem Höchstmaß an interpretatorischer Freiheit um.
Die Sammlung beginnt mit einem irritierenden Krächzen, das flugs in undefinierbare Sounds übergeht, und man braucht eine Weile, um Stimme und andere Klangquellen vollends zu separieren. Brüche, bisweilen harte Cuts, die anfangs noch etwas holprig wirken, leiten von Abschnitt zu Abschnitt. Dabei zieht ein Panorama an auf- und abschwellenden Motiven am Ohr vorbei: Tippen auf der Schreibmaschine, Ess-, Trink und Tiergeräusche, Bohren, Kratzen, Hämmern, Blubbern, Brummeln, Jaulen, Stöhnen. Alles wirkt sehr nah am Ohr, schafft eine gewisse Intimität, man fühlt sich beinahe hineingezogen in das hörspielartige Szenario, und wenn nicht, dann wird man zumindest zum aufmerksamen Hören verführt. Interessant ist, dass die Abfolge trotz allem nie hektisch wirkt, sondern in ihrer genauen Bemessenheit und der Übersichtlichkeit der Inhalte sogar einen eher entspannten Eindruck hinterlässt.
Was auf den ersten Blick noch wie ein wildes Sammelsurium anmutet, ist letztlich in einen stringenten Rahmen gepackt: Nie klingt die Musik nach metallener Kälte oder nostalgischer Gemütlichkeit, immer stehen wenige Soundereignisse, oft auch nur ein einziges, im Zentrum des Geschehens, der Ort ist keine Rumpelkammer, doch ebenso wenig eine weiträumige Maschinenhalle, und auf Wucht und Bombast wird sowieso verzichtet. Dramatik gibt es nur im Kleinen, und die geht oft Hand in Hand mit einer Portion Slapstick: Gurgeln, Grunzen und Keuchen, Pfeifen auf dem Kamm und ein feierliches Orgelspiel, dass durch den pathetischen Bassgesang wie eine Karikatur wirkt. Selbst die hohen Fiepstöne erscheinen eher wie kleine Streiche, als dass sie verstören.
Wer auf so etwas wie eine lineare Entwicklung hofft, tut gut daran, danach zu suchen – nicht dass man sie finden könnte, denn das Werk ist, wie es sich für ein Songbuch auch gehört, im simplen Reihungsstil komponiert, doch beim konzentrierten Hören fallen einem die gut konturierten Details noch besser ins Auge – und dieses ist ohnehin eine heimlicher Mithörer, denn die vielen gut im Raum choreografierten Ereignisse evozieren in ihrer Griffigkeit eine filmische Qualität.
Die originelle Neuinterpretation erscheint als Doppel-LP fünfhundertmal in der „Perihel Series“ auf Karlrecords, laut Label sind noch ein paar Dutzend Scheiben zu ergattern. (U.S.)
Label: Karlrecords