Dem einen oder anderen wird der Titel dieser Veröffentlichung sicher bekannt vorkommen, und besonders aufmerksame Leser unserer Seite werden sich fragen: Warum besprechen die das Album zweimal? Die Antwort ist einfach, denn es handelt sich bei dieser CD um eine derart ergänzte und bearbeitete Reissue des vor knapp zwei Jahren erschienenen Tapes, dass das Digipack mit dem neuen Artwork als ein fast neues Release durchgehen kann. Die sechs ursprünglichen Tracks bilden in remasterter und hier und da leicht anders betitelter Form den Rumpf der neuen Fassung, deren zweite Hälfte aus drei z.T. längeren Kompositionen besteht, die in der Zwischenzeit mit tatkräftiger Unterstützung eingespielt wurden und ziemlich gut zu dem bereits bekannten Material passen.
In meiner Besprechung der ursprünglichen Version sprach ich vom „Strudel einer dionysischen Welt“, in die Anemone Tube die Hörer mit seinen dunklen, verrauschten Lärmszenarien kompromisslos zieht – eine formlose, chaotische Welt, in welcher der Mensch in der Spätphase der Zivilisation durch Zertrümmerung der falschen sokratischen Überzeugungen und Identitäten seine wahre Bestimmung und eine Seele finden kann, die sich laut Friedrich Nietzsche mehr im Gesang als in der begrifflichen Sprache ausdrückt. Nietzsche benannte diesen formlosen, aber heilsamen Abgrund nach dem griechischen Gott des Rausches das „Dionysische“ und fand es in jungen Jahren in den Werken seines Idols und zeitweiligen Freundes Richard Wagner verwirklicht.
Eine Sache, die mir und einigen Kollegen schon damals hervorhebenswert erschienen ist, war der zum Teil derbe, verrauschte Klang der meist ambient gleitenden Musik, deren noisiges Feedback stellenweise an E-Gitarren erinnert. Im eröffnenden Titelstück mit seinem zentralen Robert Bresson-Zitat und im besonders soghaften „Tower of Evil“ (hier „Turm des Bösen“ betitelt) kommt das recht nah an Metal, in der kosmischen Entrücktheit des ursprünglich finalen „Evangelium der Weltharmonie“, bei dem die russisch-baltischen Post Scriptvm mitgewirkt haben, fühlt man sich an schöngeistigen Postrock erinnert.
Noch deutlicher in diese Richtung gehen die neuen Tracks: „Perpetual Dawn“, an dem Pierre Jolivet alias Pacific 231 mitgewirkt hat, dröhnt abgründig und ist mit einer derart kantig verkratzten Noisehülle umgeben, dass der berührend melancholische Untergrund erst nach einiger Zeit etwas deutlicher zu erkennen ist. Was beim „Evangelium der Weltharmonie“ zusammen ging – shoegaziges Rauschen und melancholische Schönheit – wird hier noch einmal auseinanderdividiert. Zur Synthese kommt dies wieder in „Suicidal Fantasy“, eine Fortsetzung des auf dem „Golden Temple“-Album enthaltenen „Negation of Myth“. Trotz seiner rauen Oberfläche wirkt der Track gelöster und abgeklärter als „Perpetual Dawn“, das einen auf sanften Schwingen in die fatalen Abgründe der eigenen Psyche zu tragen scheint.
Das abschließende „Like The Streaming Of A Giant River, Life Is Passing Without Ever Turning Around“ ist in Kollaboration mit dem ukrainischen Ambient-Musiker Monocube entstanden, der wohl auch für seine finale Gestalt verantwortlich zeichnet. Für den Track wird weit ausgeholt, denn noch etwas länger und ausladender könnte er ein episches One Track-Album füllen – dichte, dynamische Dronewellen bilden die eher schwebende als geerdete Grundlage für eine ganze Reihe an narrativen Details: Sprachfetzen, vermutlich gesamplet und trotz ihrer Verstecktheit heftig, kleine digitale Beigaben, bedrohliches Growlen von Monocube und nicht zuletzt das hier etwas dezenter eingesetzte Feedback, das die typische Anemone Tube-Handschrift trägt.
In seiner rätselhaften, hypnotischen Intensität bildet das Stück einen späten Höhepunkt des Albums und trägt nicht wenig dazu bei, dass die CD als eigenständige Veröffentlichung gelten kann, mit der „In the Vortex of Dionysian Reality“ zu seiner reiferen Form herangewachsen ist. (U.S.)
Label: Blossoming Fern