Der Anfang von L’Oceans Debüt „Primio” wirkt fast ein wenig irreführend, denn bei dem ganz schön kratzigen, übersteuerten Noisesound gehen die entspannten Gitarrentwangs und die sparsamen Taktanschläge auf dem Klavier geradezu unter, zumindest für eine gewisse Zeit. Immerhin steht schnell fest, dass es bei den gemächlichen Downtempo-Akkorden nicht (nur) um Schöngeistiges geht. Vielmehr steht hier alles im Zeichen einer Suche, die sich im Trial and Error-Verfahren durch Schönes und Verstörendes schlängelt, und manchmal, fast beiläufig auf dem Weg die perfekte Synthese zu finden scheint.
L’Ocean aus dem Raum Mailand ist mehr als eine Band im herkömmlichen Sinne, wie stark die Zusammensetzung im Laufe der zeit noch variieren wird, ist unklar, bekannt ist, dass die Gruppe von jungen Musikern mit verschiedenen Behinderungen im Rahmen der interdisziplinär ausgerichteten GP2 Social Service Cooperative ins Leben gerufen wurde, die Projekte und Trainings für Menschen mit und ohne Behinderungen ermöglicht. L’Ocean ging wohl aus einer Reihe an Workshops hervor, in denen Alltagsgegenstände zu Klangerzeugern umgebaut wurden. Als das Kollektiv immer mehr mit fertigen Kompositionen in die Öffentlichkeit trat, kam es zu Kollaborationen mit anderen, zum Teil bekannten Musikern, und die hier vertretenen Julia Kent, Fabrizio Modonese Palumbo und Ben Chasny sind nich nur als erfahrene Jammer ein gewinn, sondern sollten ihnen auch einen gewissen popularitätszuwachs garantieren.
Haben sich die dicken, grauen Noisewolken ersr einmal aus dem Opener verzogen, taucht die Musik ab in eine tiefe, fatalistische Kopfhängerstimmung, richtet sich darin ein und mündet in meditative Konzentriertheit. Umso mehr schrecken die enervierenden Noisegitarren im folgenden „The Space” auf, mehr noch das aufgeregte rhythmische Bellen irgendeiner Soundquelle, wenngleich der repetitive Takt immerhin eine gewisse Koheränz stiftet. „Acqua” steigert diese Unberechenbarkeit noch, wenn auch auf ganz andere Art, denn das taktlose Klopfen und Klingeln irgendwelcher Objekte und das barocke Saitenspiel setzen mehr auf gewagte Kontraste.
Doch immer wieder stellt sich das – subtile – Gefühl einer Stoßrichtung ein, bei der all dies eine vorübergehende Harmonisierung erfährt: So in „Melodia 75.2″, wenn die oben genannten Kontraste versuchsweise in folkigen Melodien aufgelöst werden, oder in „Fiery Drops”, wenn akustische Instrumente und umfunktionierte Sounds ihren dichotomischen Charakter verlieren und zu einem stimmigen Amalgam zusammenfließen. Doch der Verlauf der geschichte will es anders, lässt diese Harmonie wie eine Fata Morgana erscheinen, denn die beiden abschließenden Stücke ziehen noch mal alle Register der Heterogenen: Eindringliches rituelles Klingeln, kratzige Computersounds, martialische Rhythmen, rückswärts abgespielte Streichertracks, Folkgitarren u.s.w., und all dies möglichst erratisch und in Form provisorischer Andeutung.
Wer zum Schluss etwas Einheitliches erwartet, wird enttäuscht, doch ebenso geht es demjenigen, der in diesem Irrgarten nur die chaotische Aporie erhofft, denn was L’Ocean hier am ehesten feiern, ist die Magie des Stimmigen, das sich wie ein kleines Stück Festland im Ozean der zerfließenden Strukturen zu behaupten weiß. (J.G.)
Label: GP2 Servizi