Als der Begriff Industrial erstmals in der Musikgeschichte auftauchte, bezog er sich primär auf den Einfluss von Produktions- und Konsumverhältnissen auf den gesellschaftlichen Stand der Dinge in den 70ern. Dass die „Industrial Music for Industrial People“ des nach diesem Begriff benannten Labels in ihren rauen und kühlen Klängen zumindest entfernt an das Maschinelle der Industrieproduktion erinnerte, lässt sich als konsequente Symbolsprache begreifen. Dass dieser Sound einmal das Urbild einer bis heute anhaltenden Musiktradition werden sollte, die oft mit allerlei düsteren Dingen, nur nicht mit den Konzepten der Industrial Culture zu tun hat, ist ein wesentlicher Teil dieser Entwicklung.
Vereinzelt gab es aber v.a. in der frühen Zeit Musiker, die sich – ob sie sich nun Industrial nannten oder nicht – der Arbeiterwelt inner- und außerhalb der Fabriken zuwandten. Einen konsequenten Zoom auf die Arbeitsvorgänge und ihre Geräusche und eine stilisierte Feier der motorisch-kreatürlichen Seite der Arbeit lieferte der Franzose Vivenza, sein Werk war eine perfekte Musealisierung des jünger’schen Arbeiters. Einen wesentlich breiteren Fokus auf die kulturellen und politischen Zusammenhänge in Industrie-Gesellschaften hatten Test Dept., die auf einigen Releases mit Bergarbeiterchören zusammenarbeiteten und deren Archaik auch den folkloristischen Spuren Rechnung trägt, die immer Teil der Moderne waren. Ähnliches, wenngleich mit anderen Schwerpunktsetzungen und auf typisch italienische Art, findet sich bei dem aus dem lombardischen Bergamo stammenden Kollektiv Officine Schwartz.
In ihren Anfangstagen zu Beginn der 80er steckten die Musiker um Osvaldo Arioldi noch tief im New Wave und Post Punk ihrer Zeit, mit dem hypnotisierend monotonen „Fräulein“ und seinem erschöpften, deutschsprachigen Nuschelgesang haben sie genau den NDW-Song geschaffen, auf den man in Deutschland vergebens gewartet hatte, auch wenn der Text damals sicher nicht in der Bravo abgedruckt worden wäre. Mit Klavier, Handclaps a la Theatre of Hate und einer Folkmelodie auf den Akkordeon hat der Song aber auch schon Züge des späteren Officine-Sounds. Das eingängige „Rambo“ von der gleichen 7” ist netter Italo Disco avant la lettre. Dem Re-Release ihres ersten Albums „Colonna Sonora Di Remanium Dentaurum Cr Co Mo“ (1988), der letztes Jahr mit einigem Bonus-Material in Zusammenarbeit mit verschiedenen Labels erschien, stellen sie die beiden Songs voran, um danach gleich zum Wesentlichen, oder besser: zum Typischen zu kommen:
Eine Ansprache, fernes Glockengeläut, ein verhallter, wie vom Wind herbei gewehter Chor, dessen Gesang sich bald als das bekannte Partisanenlied „Bella Ciao“ entpuppt, das den Hörern weiter hinten noch einmal als von Detonationen erschütterte Klage begegnen wird. Kraftvolle Pauken mischen die Szene auf, Samples von Metall (Ketten u.s.w.) zerstören für Momente jedes Idyll. Officine Schwartz lieben das Untypische, dem Anschein nach Deplazierte, lassen unter einem Titel wie „Inno di Lavoratori e delle Officine“ („Hymne der Arbeiter und der Fabriken“) ein Cembalo aufspielen, und wenn später nicht nur Walzertakt und Bläsersätze, sondern auch Hupen und Gehämmer hinzukommen, passt es trotzdem, und es hat vor allem viel Seele und authentisch wirkendes Kolorit, das mit einem Hauch von frühem 20. Jahrhundert schon damals in den 80ern nostalgisch gewirkt haben muss.
Genau dieses Lebensgefühl, diese atmosphärische Mischung aus Neo Realismo, No Future und einer paradoxen Aufbruchstimmung, hält die verschiedenen musikalischen Ideen mehr als alles andere zusammen: Aufwühlende Industrial-Tracks von perkussiver und oft auch orchestraler Wucht, anheimelnde Akkordeonstücke und Jahrmarktsnummern mit Leierkasten und ebenso leierndem Gesang – verblasste Zeugnisse einer Lebenswelt, in deren Zerstreuungen auch viele Reminiszenzen aus einer vorindustriellen Zeit, und sei es als liebeswürdiger Kitsch, zu finden sind. Letztlich immer wieder von Samples, Lärm und folkigen Instrumentalparts getragene Kollagen – all dies bildet eine Einheit, die sich nicht nur durch die Album-Tracks, sondern auch durch die als Bonus vorhandenen Konzertmitschnitte zieht, die oft noch eine Spur infernalischer ausfallen und vom „Einheitsfrontlied“ bis zu (relativen) Popstücken noch einiges zu bieten haben. Die Aufnahmen stammen aus dem Jahr 1989 und erschienen zuerst auf einem Bootleg namens „Live a El Paso”, das für diese Veröffentlichung jüngst von Maurizio Pustianaz (Gerstein) digitalisiert wurde.
Neben weiteren Extra-Tracks („Rambo“ live und einer bassig wubbernden Neuauflage von „Fräulein“ aus dem Jahr 2016) zählt die 2014 von Osvaldi selbst produzierte autobiografische Banddoku „Da qui alla Ruggine“ auf der beiliegenden DVD natürlich zum interessantesten Bonus-Material: In einer Montage aus alten Konzertmitschnitten, sich überschlagende Kamerafahrten durch symbolträchtige Schauplätze, Stilleben aus dem Schutt von Industrieruinen sowie alten und neuen Interviews mit Mitgliedern und Weggefährten wird ein umfassendes, meist stilvoll grobkörniges Bild aus dreißig Jahren im Leben der Band gezeichnet.
Ich kann zu den zahlreichen Kommentaren, die die einstündige Doku durchziehen, nichts sagen, da ich nur Bruchstücke des Italienischen verstehe, doch die Atmosphäre der Aufnahmen gibt beredte Auskunft über einen im Laufe der Jahre kaum statisch gebliebenen Kosmos, der von Urban Decay verrottete Arbeits- und Wohnstätten ebenso enthält wie verwunschene Renaissancebauten, und demonstriert, dass die Musik des Kollektivs in die verschiedensten Orte unserer Zivilisation passen, so lange sie zumindest ein Stück heruntergekommen sind. Darüber hinaus belegt der Film den sozial und personell offenen Charakter der Officine, der sich in späteren Jahren selbstredend neue, jüngere Sänger, Instrumentalisten und Theaterleute angeschlossen haben, und die – ob bei der “offiziellen” Performance, beim Feuerwerk glühender Spänen während einer Bootsfahrt oder bei einer Prozession durch die Altstadt inklusive Fässerrollen und Stelzentanz – stets eine ganz selbstverständliche Nähe zu seinem Publikum pflegt.
Trotz ihres langjährigen Bestehens und des einzigartigen, multimedialen Charakters sind Officine Schwartz außerhalb ihres Landes nicht annähernd so bekannt wie sie es sein sollten. Vielleicht kann diese Veröffentlichung daran ja etwas änderrn, und in diesem Sinne wären bei einer Neuauflage Untertitel wünschenswert. Doch auch so ist sie nicht bloß ein Klassiker, den sich kein Freund Industrial-naher Subkulturen entgehen lassen sollte, sondern auch ein Dokument, das einige Wissenslücken im Rahmen spätkapitalistischer Kulturen und Gegenkulturen zu füllen weiß. (U.S.)
Label: Again Records / Luce Sia / Fonoarte