Ursula K. Le Guin zählt zu den Fantasy- und Science Fiction-Autorinnen, die in ihrem Werk immer wieder das kulturell Andere zum Thema machten, Mentalitäten und Lebensgewohnheiten in fernen zukünftigen Gesellschaften wurden nicht nur holzschnittartig entworfen, sondern zu feinsinnigen, in sich logischen Systemen ausgearbeitet, die eine große psychologische und anthropologische Sensibilität verraten.
Wenn man dieses Interesse in einen biografischen Kontext setzen will, kommt man nicht an der Arbeit ihrer Eltern als Anthropologen der Universität von Berkeley vorbei. Alfred und Theodora Kroeber forschten umfassend zu den Kulturen der Ureinwohner Kaliforniens, die meist in kleinen, aus einer handvoll Sippen bestehenden Jäger und Sammler-Gesellschaften organisiert waren und die für den amerikanischen Südwesten ungewöhnlich fruchtbare Flusstäler der Region nutzten. Wer die auf der Arbeit ihrer Eltern (und v.a. auf den Aufzeichnungen ihrer Mutter) beruhende Serie Ishi, the Last of his Tribe kennt, hat eine Idee davon, wie wenig dieser Kulturkomplex mit dem Klischee des Indianers mit Zelten, Pferden und Federn zu tun hatte.
Die fiktiven Welten der Tochter, die meist in einer nicht näher bestimmten Zukunft spielen, erinnern häufig an diese Kulturen, wobei die an Kalifornien erinnernden Landschaften keinen geringen Teil dazu beitragen. Ihr 1985 herausgekommener Roman Always Coming Home, der immer noch auf seine Übersetzung ins Deutsche wartet, ist ein besonders markantes Beispiel dafür, spielt er doch in einem zum Teil wieder vormodern gewordenen postapokalyptischen Kalifornien und enthält neben dem Plot ausführliche ethnografische Ausführungen über die Kesh, eine der neotribalen Ethnien, die zwischen Naturverbundenheit und Relikten unserer Zivilisation den Schauplatz bevölkern.
Der Roman enthält im Anhang ein Glossar wichtiger Vokabeln der Kesh-Sprache, dazu Kochrezepte, Abbildungen ihrer Werkzeuge und vieles mehr. Einen besonders großen (und interessanten) Teil jedoch nehmen Lieder und Gedichte der Kesh ein, und schon zur ersten Ausgabe des Buchs produzierten die Autorin und der befreundete Komponist Todd Barton eine Kasette mit Aufnahmen, die das im Roman beschriebene literarische und musikalische Material quasi ethnographisch „dokumentierten“. Vor kurzem sind diese Aufnahmen erstmals auf LP erhältlich.
Interessant ist, wie sehr die räumliche Umgebung, also Natur und Landschaft, auch das akustische Abbild der fiktiven Kesh-Kultur charakterisieren. Immer wieder hört man Grillen zirpen, Frösche quaken, Bäche rauschen und sanft plätschern, und aus den darin verwobenen Geräuschen alltäglicher Geschäftigkeit dringen immer wieder Gesprächsfragmente, längere Vorträge und Gesänge ins Bild, ohne erkennbares Narrativ gereiht und in einer fiktiven Sprache, die stellenweise an Farsi oder an manche slawischen Sprachen erinnert. Manchmal überraschen die männlichen und weiblichen Gesänge, teils solo, teils als Chor, teils schlicht repetitiv, teil als komplexer Kanongesang, mit sehr schönen und freundlichen Melodien, die die sanfte Grundstimmung vieler Werke Le Guins wiedergeben. Nur selten, aber dann umso wirkungsvoller, bricht sich Exaltiertheit Bahn.
Das Pfeifen und Quietschen folkiger Flöten, die sanfte New Age-Aura einiger Harmonium-Drones sowie allerlei Rasseln und hölzern anmutende Perkussion geben der Erzählung einen rituellen Anstrich und lassen die Idee einer Kultur mit stark spiritueller Ausrichtung entstehen. Einen großen Raum nehmen bei all dem eigens angefertigte Schlag- und Blasinstrumente ein, die im Rahmen der Erzählung natürlich Teil der Kesh-Tradition sind. Manche Momente, wenn Stone Telling, die Protagonistin des Romans, am Fluss recht spontan in einen mystischen Gesang einstimmt und die naturverbundene Spiritualität am stärksten zu spüren ist, könnte man glatt vergessen, dass es die Kesh-Kultur nie gegeben hat und die postapokalyptische Ära allenfalls in ferner Zukunft, wenn auch sicher ganz anders, anstehen wird.
Le Guins Talent, kulturelle Feinheiten (auch aus dem Bausteinen überlieferter Kulturen) zu ersinnen, spricht für eine Sensibilität, die inspirierender sein dürfte als vieles, das blutleer und weltfremd auf dem Lehrplänen der Humanities steht, und die belegt, dass ethnographisches und anthropologisches Wissen mehr ist als akkumuliertes Datenmaterial über beinahe komplett Vergangenes. Ganz abgesehen davon sind die vorliegenden Aufnahmen auch aufgrund ihrer sanften außerweltlich anmutenden Schönheit zu empfehlen. (U.S.)
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