In gewisser Weise kann man die Compilation „Live at Bimhuis“, auf der The Ex vor drei Jahren eine jahrzehntelange Serie von Konzerten in einem Amsterdamer Jazzclub dokumentierten, als ihr Opus Magnum begreifen – nicht nur weil die mittlerweile als Quartett auftretenden Damen und Herren passionierte Performer sind, sondern weil auf dieser Sammlung auch ein Eindruck der stilistischen Bandbreite entsteht, den das Ende der 70er im Umfeld des Anarchopunk geborene Band-Kollektiv vorzuweisen hat. Jazz, Klangkollagen, Noiserock, Afrikanisches und vieles mehr hat in den letzten vierzig Jahren Einzug in den Ex-Sound gehalten, die Geschichte dieser Entwicklung könnte ein dickes Buch füllen.
In gewissen Abständen bringen The Ex natürlich nach wie vor Alben heraus, und auf dem gerade erschienenen „27 Passports“ liegt diese Bandbreite erst einmal nicht allzu offen auf der Hand, denn hier scheint sich das Gespann auf seine Punk- und Postpunk-Wurzeln zu besinnen und präsentiert eine Sammlung aus zehn vergleichsweise aufgeräumten Songs. Doch der simple Schein trügt, denn die Songs haben mindestens einen doppelten Boden, und zwischen den Schichten verbirgt sich der Ertrag einer ereignisreichen Bandgeschichte, in der vieles absorbiert und zum selbstverständlichen Teil der eigenen Handschrift wurde.
Ob hinter den siebenundzwanzig Pässen eine konkrete Geschichte steht – man weiß es nicht, doch in den Texten der zehn Songs wird ordentlich fabuliert, und markante Bilder werden heraufbeschworen. So entsteht indirekt ein interessantes Narrativ, das seinen Reiz keineswegs dadurch verliert, dass man seine Inhalte nur vage und episodisch fassen kann. Der Opener „Soon all Cities“ ist das Sprachrohr einer Untergangsprophetie: Die Stadt, welche auch immer, wird untergehen, und alle darin ertrinken, und ob das ein Metapher sein soll oder nicht, irgendwann geht alles über in die Verdammung einer bald einsetzenden Vereinheitlichung. Verkehrsinseln, Restaurants, Unfälle etc. – bald werden sie in allen Städten identisch sein und Teil einer globalistischen Dystopie, so die abgeklärten Worte vor der Kulisse eines Europunk, in den ganz dezent afrikanische Popelemente gemischt sind. Nicht nur deshalb stellt sich die Frage, ob die anklingende Zivilisationskritik primär aus einem westlichen Blickwinkel heraus formuliert ist. The Ex sind weit gereist und kulturelle Empathen par excellence.
Motive des Niedergangs kontrastieren in beinahe allen Tracks mit einer vitalen Musik, die ihren Druck oft dem Zusammenspiel gleich dreier Gitarren verdankt. Im rockigen „The Heart Conducter“ fallen alle erdenklichen Körperorgane einem Unfall zum Opfer, außer eben dem titelgebenden Herz, in „This Car is my Guest“ sichert jemand einer alten Karre Asyl zu, eventuell dem im Booklet abgebildeten Wagen, und der afrikanisch inspirierte Gesang und die beinahe ekstatisch scheppernden Handdrums geben der ungewöhnlichen Alltagsgeschichte ein Kolorit zwischen Dritter Welt und Urban Decay.
Neben Arnold de Boer steuert Schlagzeugerin Katherina Bornefeld einiges an Gesang bei, das poetische „Silent Waste“, bei dem die Unverwundbarkeit von Worten der Verletzlichkeit von Menschen gegenüber gestellt wird, und die Postpunk-Nummer „Birth“ mit der Forderung nach einem radikalen Neustart für unseren Planeten zählen zu den stärksten Momenten des Albums. Im letzten Drittel dominieren wieder punkige Kracher, so das zerschmetternde Instrumentalstück „Footfall“, bei dem die Energie des Punk mit dem Einfluss hypnotischer Kologo-Power das Potential haben sollte, so manche Konzertvenue zum Einsturz oder zumindest zum Kochen zu bringen.
„27 Passports“ hat tatsächlich das Zeug, die Songauswahl künftiger Liveshows zu dominieren, die von feinsinnigem Humor und beißendem Spott in Spannung gehaltenen Texte, die oft von literarischen Einflüssen inspiriert sind, geben dem Album jedoch eine Dimension, die über den anarchische Rock’n'Roll-Drive weit hinausgeht. (U.S.)
Label: Ex Records