Unter den vielen Folk-Genrebegriffen, die in den letzten Jahrzehnten die Runde machten, tauchte irgendwann auch das Wort Ur-Folk auf. Wie all seine Pendants natürlich nur eine vage Kategorie, bezeichnet der Begriff eine Musik, die von schöngeistiger Romantik ebenso weit entfernt ist wie von Indie-Sanftmut, sich dabei aber auf subtile Art bei lärmiger Undergroundmusik bedient. Sicher ist Ur-Folk eine der “heidnischsten” Musikarten überhaupt, und in ihren oft derb klingenden Aufnahmen und den Performances nah am Re-Enactment lassen die entsprechenden Musiker raue, prähistorische Welten aufleben, zu denen nicht nur undurchdringliche Wälder und Moore gehören, sondern auch mythische Gestalten wie die Mammuthones aus Sardinien und überhaupt die Wilden Männer aus nahezu allen Ecken Europas.
Musik dieser Art ist oft sehr an der – z.T. neolitischen – Kultur einer bestimmten Region orientiert, und oft entscheidet die Vorliebe oder Abneigung gegenüber einem bestimmten Dialekt darüber, wie sehr einem eine solche Musik zusagt, zumal das Klangbild oft etwas spröde und sperrig ist. Zu den mittlerweile renommiertesten Vertretern solcher Musik zählen die in Barcelona ansässigen Àrnica, die seit rund zehn Jahren bereits mit dem Einsatz von Field Recordings, aber natürlich auch von derbe gespielten Gitarren, Flöten, Dudelsäcken und Trommeln und einem meist bärbeißigen Gesang in den einheimischen Sprachen ihre Interpretation lokaler Mythen präsentieren. Vom Mittelalterkitsch, wie man ihn von einschlägigen Jahrmärkten her kennt, könnte ihre Musik nicht weiter entfernt sein.
Ihr vor einigen Monaten erschienenes Album beginnt mit reißerischen “¡Leukade! ¡Leukade! ¡Leukade!”-Rufen. Der Albumtitel heißt auf deutsch Wolfskopf, und das ganze Album scheint sich lokelen Wolfsmythen zu widmen – Erzählungen aus einer Zeit, als Mensch und Bestie der Überlieferung nach eins waren. Atonale Hörner ertönen, man könnte in Sardinien sein, oder im Kolchis aus Pasolinis “Medea”-Verfilmung, doch kurz darauf setzt der verschrobene iberische Brüllgesang ein und hilft, die Szenerie zu orten. Grobe, perkussive Rasseln lassen eine sperrig rituelle Atmosphäre aufkommen. Doch Arnica sind nicht nur eine Truppe für’s Grobe, denn in einigen Tracks klingt verhalten Schöngeistiges an, das allerdings – selbst bei “La Tésera Se Ha Quebrado”, der vielleicht baladeskesten Nummer des Albums – stets in gebrochener, fast schon programmatisch unkitschiger Form statt hat.
Die sanft entrückte Flötenmelodie, die in “Gira la Rueca” über dem hypnotischen Teppich aus Zupfgitarren und Handdrums schwebt, wird von elektrifiziertem, evokativem Sprechgesang konterkariert, die schrägen Sackpfeifenklänge in “Nieve En Llamas” erzeugen eine verzerrtere Form der Psychedelik als z.B. die hippieske Folkmusik von Sangre de Muerdago, und die klaren Hochtönereien einer Frau (vermutlich Perkussionistin Cecilia, deren Stimme unseren Lesern aus dem Ô Paradis-Kontext bekannt sein dürfte) in “Dioses Ocultos” müssen sich gegen atonale Tröten und berserkerhafte Schlachtrufe behaupten – und schafft es, damit eine zwiespältige Einheit zu bilden, die nah an die “eiserne Faust im samtenen Handschuh” herankommt, mit der Alan Trench einmal archaische Folkmusik charakterisierte. Auf diese Weise entsteht eine Stimmung zwischen ritueller Entgrenzung und kraftstrotzender Gebundenheit, über die genug transportiert wird, so dass man auch ohne Kenntnis des Spanischen und Katalanischen eine Ahnung von der Wucht der hier umgesetzten Mythen bekommt.
Àrnica spielen eine Art der Folkmusik, die vom studentischen Hipsterfolk des letzten Jahrzehnts vermutlich am weitesten entfernt ist, und auch wenn ihre Songs ebenso für Black Metaller und Ritualfans interessant ist und die eine oder andere elektronische Note beigemischt ist, scheint sie doch näher an den lokalen iberischen Traditionen zu sein als so manche radiotaugliche Schöngeisterei.
Label: Equilibrium Music