Seit es die moderne Psychologie gibt, ist die Grenze zu spirituellen Praktiken unscharf, und viele Diagnose- und Therapiemethoden haben eine lange Vorgeschichte in rituellen Handlungen alter Kulturen oder den mystischen Strömungen der Weltreligionen. Ein besonders augenfälliges Beispiel dafür ist die sogennannte Trauminkubation, also das willentliche Hervorrufen von Träumen zu psychotherapeutischen Zwecken. Diese steht in einer langen Tradition von Kulthandlungen, bei denen in verschiedenen Teilen der Welt Geister und Götter um Antworten in Form von Träumen erbeten wurden. Aus dem antiken Griechenland ist der Tempelschlaf bzw. die Enkoimesis überliefert, bei der im Schlaf, der nach umfangreichen Riten im Heiligtum verbracht wurde, oraktelhafte Antworten und Instruktionen erhofft wurden.
Die Betreiber der befreundeten Ritual-Acts Holotrop (De) und Vrna (It) haben in der Vergangenheit mehrfach Erfahrungen auf dem Gebiet gemacht und geben diese auf je zwei Onirokons – Schlafberichten – musikalisch wieder, was zum vorliegenden Split-Album mit vier numerierten Tracks führte. Holotrop, dessen Instrumentarium Gong, Didgeridoo, Trommeln und diverse elektronische Geräte umfasst, eröffnet das Werk mit einer hintergründigen, wie aus der Tiefe herüberhallenden Klanglandschaft. Die Idee, dass da etwas aus einer fernen Dimension übermittelt wird – in Wellen mit unberechenbaren Brocken an schrillen, grummelnden, flüsternden, fauchenden, detonierenden Sounds – drängt sich hier regelrecht auf, und alles bleibt so vage und dunkel, wie man sich eine orakelhafte Traumbotschaft vorstellt. Alles macht einen bedrohlichen Eindruck, und wenn man das Freudsche Diktum bemühen will, dass der Traum eine Wunscherfüllung sei, bleibt nur zu sagen: Be careful, what you wish for.
Der erste Vrna-Track beginnt mit einem anderen Aspekt, der den Schlaf zumindest häufig begleitet – Stille. Was in den nächsten Minuten den Ohren näherkommt, ist eine ebenso enigmatische Abfolge von hintergründig dröhnenden Klangwellen und geheimnisvollem Flüstern – ein Sound, der sich immer wieder an den Rand des Wahrnehmbaren zurückzieht. Wer sich aktiv darauf einlässt, wird in der zweiten Hälfte mit einer opulenten musikalischen Antwort belohnt. Holotrop arbeitet beim folgenden Stück mit Sprachfetzen und perkussiven Soundeffekten und erzeugt eine intensive, entrückte Atmosphäre. Vrna geht im finalen Onirikon direkt zur Sache und präsentiert ein aufwühlendes, von Noisewellen und abgründigem Fauchen getriebenes Traumgesicht. Ob die Glocken und Handtrommeln da noch etwas Zuversicht einbringen? Vielleicht, aber letztlich ist das Dunkle hier Programm, wie auch das Genet-Zitat im chicen Booklet unterstreicht: “A man must dream a long time in order to act with grandeur, and dreaming is nursed in darkness.”
Für ein Split-Album ist “Enkoimesis” erstaunlich homogen, alle Tracks entführen die Hörer in Traumgefilde, die sich langsam, aber stetig entfalten und in ihrer Dunkelheit aussagekräftig sind. Wie schon beim letzten Holotrop-Album bereichert der inhaltliche Rahmen die Wirkung der Musik noch um eine Vielzahl an Assoziationen und kann als Einstieg in ein interessantes Thema fungieren. (U.S.)
Label: Qualia