Erinnerungen, die man als zersplittert und bruchstückhaft erlebt, sind selten so klar und eindringlich wie die Kompositionen, die der iranische Musiker Saba Alizadeh auf seinem ersten Soloalbum „Scatteted Memories“ zusammengestellt hat. Es handelt sich dabei um Nacharbeiten verschiedener Stücke, die er in den letzten Jahren komponiert und aufgeführt hat, und die so Teil eines ungeordneten musikalischen Erinnerungngsfundus sind.
Alizadeh entstammt einer renommierten Teheraner Musikerfamilie, sein Vater Hossein ist ein auch international bekannter Komponist und Saiten-Virtuose und einer der wichtigsten Vertreter der Neuen Musik auch außerhalb des Mittleren Ostens. Saba entdeckte schon früh die Kamancheh als sein Instrument – ein traditionelles persisches Streichinstrument vom Klangvolumen einer Violine, die unter deren Einfluss zwar ihre Saitenzahl irgendwann von drei auf vier erhöht hat, im Gegensatz zu ihr aber während des Spiels gedreht wird, was ihrem Sound eine wabernde, wellenförmige Qualität und so einen zusätzlich orientalischen Touch gibt. Saba sah sich aber schon früh als einen experimentell arbeitenden Elektroakustiker, der die traditionellen Spielweisen zwar beherrscht, diese aber gerne mit gesampleten Klängen und elektronischen Soundscapes verknüpft. Nach ausgedehnten akademischen Studien und einigen Kollaborationen präsentiert er seinen Stil nun erstmals auch im Alleingang.
„Scattered Memories“, das letztes Jahr im Iran veröffentlicht wurde und seit neuestem über Karlrecords auch in Europa auf Vinyl erhältlich ist, hat eine ganz eigentümliche Atmosphäre, auch wenn die Machart der Kompositionen vordergründig an die mediterrane Folk-Elektronik von Acts wie Crete und Niedowierzanie erinnern mag. Die Tracks wirken in ihrer Eindringlichkeit und aufgrund ihrer bildreichen Titel wie ausschnitthafte Momentaufnahmen aus größeren Geschichten, was zu Alizadehs zweitem Standbein als Fotograf passt.
„Blood City“ ist ein grandioses Intro, nach dessen Intensität man sich wundert, dass die folgenden Stücke im Vergleich nicht blass wirken: Der Klang der Kamancheh, der wohl durch dezente Bearbeitung so wundgescheuert anmutet, entfaltet in minimaler Tonfolge eine Melodie von entrückter Wehmut und ist eingehüllt in kühle, elektronische Klangschichten, die das Emotionale der Musik noch deutlicher hervorheben. Es gibt viele Zugänge zu diesem Album, einer fungiert über den vielfältigen und zugleich unterschiedlich starken Einsatz des zentralen Instruments, das oft nicht ganz vom Hintergrund abzugrenzen ist. In „Dream“ erklingt es als einlullendes Pizzicato und tritt mit xylophonartigen Klängen in einen eigenwilligen Dialog zwischen Konfrontation und Harmonie. In „Colors Wove Me in Tehran“ ist es kaum auszumachen hinter dem tremolierenden Minimalismus, der den Raum immer mehr ausfüllt, bis ein mysteriöses chorartiges Toning den vorderen Bühnenrand übernimmt.
Ob man die IDM-artigen, beinbrecherischen Takte in „Laden Dead End“ oder das Wabern der Kamancheh in „Greetings to Earthfire“ in den Fokus nimmt, die hörspielartigen Spoken Words in „Would You Remember Me“ oder die wunderschönen Pickings, die im Schlusstrack „Fluid“ an ein Banjo erinnern – über jedes Stück ließe eine längere Abhandlung schreiben. In einem vor einiger Zeit geführten Radio-Interview enthüllte Alizadeh die vielfältigen Verweisschichten in „Elegy of Water“: Das zwischen aquatischen Feldaufnahmen und verschiedenen organisch anmutenden Dröhnwellen oszillierende Stück basiert primär auf der Verwendung einer traditionellen Holzgeisel, mit der sich fromme Schiiten beim jährlichen Ashura-Fest – in Gedenken an das Martyrium ihres verehrten Imams Hussein, einem Enkel des islamischen Propheten – geiseln, während andere sich mit ihren Fästen auf die Brust schlagen und Verse skandieren. Es wirkt provokant, dieses Objekt für Musik zu verwenden, gleichwohl die Selbstgeiselungen ebenfalls musikaliche, z.B. rhythmische Elemente aufweisen. In der besagten Geschichte fiel der Imam beinahe dem Verdursten zum Opfer, so dass Wasser in seiner Verehrung immer einen große Rolle spielte. Viele heutige Iraner erinnern in Phasen der Wasserknappheit daran. So schließt sich der Kreis und lässt doch viele Fragen offen.
Mit und ohne Hintergründe, die man bei vielen Tracks ohnehin bloß erahnen kann, ist „Scattered Memories“ ein großartiges Stück elektroakustisher Soundart zwischen Elektronik und progressiver Weltmusik. Ich würde es als bisheriges Album des Jahres küren, wenn dieses nicht noch so lächerlich jung wäre. (U.S.)
Label: Karlrecords