ALESSANDRA ERAMO: Tracing South

Alessandra Eramo stammt aus einer der südlichsten Regionen Europas, nämlich aus der Stadt Taranto in der italienischen Provinz Apulien. Irgendwann verschlug es sie in nördlichere Gefilde, zunächst zum Studium nach Venedig und Mailand, später dann nach Stuttgart und Berlin. Der Süden – als geografischer und kultureller Ort, aber auch als abstrakte Idee – spielte in der Musik der Vokal- und Klangperformerin jedoch immer eine wichtige Rolle, und so war es fast schon zu erwarten, dass der nach Süden gerichtete Blick und Gefühle von Nähe, Distanz und Bewegung in ihrem ersten Longplayer “Tracing South” eine zentrale Rolle spielen.

Eramo arbeitet stimmlich mit Fragmenten von Fantasiesprachen, Wiederholungen, Syntaxzertrümmerung, der Kombonation italienischer, englischer, spanischer und deutscher Wortgruppen und rein soundorientierten Lauten – all dies vor einem Hintergrund aus analoger Elektronik, den Klängen von Theremin, Mundharmonika, Zampogna und anderem sowie einer Vielzahl gesampleter Alltagsgeräusche. Für ihre Erkundung des mediterranen Europa und des Südens Lateinamerikas steht ihr somit kein klassisches Songrepertoire zur Verfügung. Ihre z.T. abstrakte, z.T. aber auch viel konkreter am Sprachmaterial orientierte Arbeit erlaubt ihr allerdings eine anderenfalls nur schwer zu erreichende Offenheit.

In vielen Stücken klingt die Nähe-Distanz-Relation, der Blick auf den Herkunftsort, der für andere vielleicht ein Sehnsuchtsort ist, auch das Zurückverfolgen der eigenen Spuren in unterschiedlicher Direktheit an: In “I cannot neglect the sea”, das über weite Strecken auf der gedoppelten Repetition des Titels basiert, wird das Erinnern und Vergessen des Ortes direkt angesprochen, kombiniert mit dem Motiv einer diffusen Hoffnung. Diese allerdings wird ausgerechnet von Shakespeares Ophelia ins Spiel gebracht, einer der berühmtesten Ertrinkenden der Literaturgeschichte, die somit gleich die Brücke zum nächsten Track schlägt – ein hektisch verstörender und streckenweise atonaler Abgesang auf das mare nostrum als Massengrab für Migranten. Idealisiert wird die von vielen deutschen Dichtern verklärte “südliche Sphäre” hier keineswegs, auch wenn sich seine Schönheit vielfältig spiegelt im lichtdurchfluteten Neorealismus der elf Tracks.

Der Konnex von Erinnern und Vergessen, Vergangenheit und Zukunft, Nähe und Distanz klingt auch an, wenn im rauschenden Abschluss des mehrsprachigen “Really Very Gut! (Nocturne)”, das den Titel diesmal fast schon mit Tomasini-Pathos wiederholt, Spuren traditioneller Folkgesänge durchscheinen. In “Southern Landscape” mit seinem harmonischen Dröhnen und im gebrochenen Kolorit von “Song for the Sun (Carnival Rites)” mit kindlichem Gesang, Dudelsack, Schuhplattler und geselligen Field Recordings kommen diese Folkelemente deutlicher zum Ausdruck und wirken nie wie Zitate, sondern erscheinen stets als integraler Bestandteil dieser Musik. Und lösen sich doch wie eine fragile Illusion im rauschenden Lärm auf.

Eramo verfügt über eine schöne, aber doch natürlich unmanirierte Stimme, die sie wie einen folkigen Sopran einzusetzen weiß, die sich aber auch vorzüglich für reines Toning eignet – “eher wie ein Instrument”, wie immer wieder gerne gesagt wird. Das Rituell-Beschwörende, das die titelgebene Leere in “Vacío” füllt, das Pfeifen in “Primitive Bird” und die onomatopoetischen Takte und Schnalzlaute in “a/tem” sind herausstechende Momente. Im Albumkontext sind das besondere Markierungen innerhalb eines hochemotionalen Sound- und Wortmosaiks, das auch beim mehrmaligen Hören immer wieder neue Assoziationen sprießen lässt. (U.S.)

Label: Corvo Records