Die merkwürdige Geschichte, die auf der vorliegenden Compilation erzählt wird, spielt sich in einer der vielen Bergbaugruben des 19. oder 20. Jahrhunderts ab, oder vielleicht auch in allen zugleich. Der Kumpel allerdings, der Grubenarbeiter, tritt hier nur als Nebenfigur auf, denn Held und Antiheld sind die zahlreichen Grubenpferde, die zu Transportzwecken in den Untertagebau eingebunden wurden. Tausendfach wurden sie in englischen, französischen und v.a. deutschen Gruben in unterirdischen Ställen gehalten, viele sahen nie das Tageslicht, und Gerüchten zufolge pflegte man sie sogar zu essen – herzhaft gewürzt, in üppiger Marinade und mit Schmorgemüse als Beilage. Aber das führt schon mitten hinein in die rumpelnde, dröhnende und lärmende Musik, durch die ein schräger Schalk geistert, der wahrscheinlich noch viel mehr irritieren würde, hätten Surrealismus und Dada nicht ihre untilgbaren Spuren in der DNA der Moderne hinterlassen.
Die Frage, wie man mit einer eher abstrakten, auf Texte weitgehend verzichtenden Musik ein komplexes Thema anpeilt, stellt sich auch hier, und viele der beteiligten Musiker setzen mittels m.o.w. gut interpretierbarer Geräusche am Schauplatz an. Mit anderen Worten: Es wird dunkel, rau, manchmal geradezu klaustrophobisch eng und in jedem Fall „unterirdisch“, so z.B. in Grodocks Opener „Blicklos“, dessen Titel vielleicht auf die Verkümmerung des Sehsinns vieler Grubenpferde anspielt. Mit langsamem Brummen begleiten die Freiburger einen beim Abstieg in die Tiefe, Schritte, die nicht die eigenen sind, erklingen im Dunkel und geschäftige Samples lassen irgendwo im Nachbarschacht ein industrielles Hörspiel ablaufen.
„Untertagebau Juli 18“ heißt das folgende Stück des ominösen Offenbacher Projektes Materialeinschüchterung und klingt mit seinem dynamischen Dröhnen und Rasseln wie eine Bergbau-Version von Genetic Transmission. Während Dieter Müh ein Szenario subtilen Brodelns einfängt, zaubert Aaron Karnov eine in vielen dunklen Klangschattierungen montierte Kollage aus dem Hut, und wer hier Referenzen braucht, der sei an Post Scriptvm, alte Organum und natürlich Nurse With Wound verwiesen. Daneben bietet Ale Hop kleinteiligen Noise, der viele Richtungen einschlägt, von denen aber keine aus dem unterirdischen Labyrinth führt. Auch das kryptisch betitelte „T.06.66“ von TMS, das die Sammlung abschließt, geht in diese Richtung, mit seinem dunkel brodelnden Noise scheint sich der Kreis zu schließen. Eine retrofuturistisch eingefärbte und ausgesprochen stylische Version des klaustrophobischen Untertage-Szenarions zeichnen die Römer von Noise Cluster, deren atmosphärische analoge Klanglandschaft Chill Wave und einen imaginären Giallo-Score anklingen lässt. Ähnlich verfremdet erscheint das Setting beim Franzosen Drywud. Im Zentrum seines Tracks steht ein Monolog, dessen Adressat wohl ein Pferd ist, und natürlich kommen die Tiere in einigen Beiträgen dann auch selbst zu Wort, allem voran bei B°Tong, dessen Track mit einem heftigen Stallgewitter (man muss an der Stelle an Daniel Löwenbrücks und Marcellvs L.s gleichnamige Kollaboration mit ihrem blökenden Bestiarium erinnern) aus echtem und unechtem Tierbrummen aufwartet und in einem vorbeiziehenden Kuhglockenzug endet. Jugendwerkhofs „Schmutzgaul“ ist purer Noise aus Wiehern, Schnarchen, Rülpsen und sonstigem Bestiengebrumme.
Carsten Vollmer steuert gleich drei (allerdings kryptisch kurze) Harsh Noise-Tracks bei, allesamt Versionen von „Rheinischer Sauerbraten vom Pferd“ inklusive Feedbackjaulen und Powernoise-Shouts, mit denen er in der Tradition Jello Biafras, Helge Schneiders und David E. Williams’ steht – allesamt Künstler, die immer wieder vom Essen singen. Interessant, dass das immer gleich komisch wirkt: Essen ist vollkommen prosaisch und das Gegenteil von Pop, je deftiger, desto mehr. Das gleiche gilt für Nutztiere. Kühe, Schweine, Schafe, Hühner, Esel und auch Pferde, so lange sie nicht wild sind oder von Menschen geritten werden, die als wild und frei gelten.
Schon in diesem Sinne also ist das Tape ein grandios a-poetisches Stück Antipop, was man vom gegenwärtigen Standard des sogenannten Industrial ja nicht immer behaupten kann. Von den 45 Kassetten mit dem liebevoll kopierten und reich bebilderten Booklet sollen noch einige zu haben sein, und der Zusatz „Vol. 1“ stimmt hoffnungsvoll auf eine wie auch immer geartete Fortsetzung. (U.S.)
Label: Grubenwehr Freiburg