Dass die deutsche Hauptstadt eines der Zentren des Drone und aller Arten abstrakter Elektronik ist, ist weithin bekannt, und welche Fans moderner Musikabenteuer sind nicht schon aus dem europäischen Umland zu Festivals wie Atonal und CTM oder ähnlich gearteten Konzerten an Orte wie Berghain, Radialsystem, Funkhaus und Volksbühne gepilgert.
Manche wissen, einige ahnen und viele sollten erfahren, dass all diese Ereignisse und Erzeugnisse, die seit Jahr und Tag die Wahrnehmungsgrenzen der seligen Hochglanzmagazine überschreiten, nur die Bergspitze eines viel umfangreicheren Treibens sind. Aus dem Pool kleiner experimenteller DIY-Labels wie Metzger Therapie, Kitchen Leg, eben Full Body Massage oder Das Andere Selbst sowie dem Konzert-Lineup kleiner Venues wie dem Loophole, dem Atelier Äuglein, dem KM28, dem noch jungen Arkaoda-Club und natürlich dem Madame Claude, wo gefühlt seit Jahrzehnten jeden Montagabend das Murmeltier grüßt, rekrutieren sich nicht selten die künftigen Lieblinge der Wire-Leser, und selbst wenn der “große” Durchbruch auf sich warten lässt, bleiben bei den meist auf eigene Rechnung organisierten Shows allenfalls Wünsche nach dem optimalen High End-Sound offen.
Viele, die den Stadtteil Neukölln nur aus den Tagesmedien kennen und eventuell ein etwas räudigeres Bild auf die von Zeit, Wetter und Abgasen ergrauten Altbaufassaden um Karl-Marx- und Hermannplatz projizieren, mag es überraschen, dass ein Großteil dieser ganzen Szene sich seit gut zehn Jahren v.a. hier abspielt, in den kleineren Seitenstraßen zwischen veganen Cafés, Kleingalerien, Kitas, Slowfood-Läden und den Ausläufern der türkisch und arabisch geprägten Gewerbestrukturen, die ihren Hotspot eher an den großen Verkehrsadern haben. Jüngst haben zwei Handvoll Musiker aus der Nachbarschaft eine Compilation zur Feier ihrer Freundschaft zusammengestellt und kurzerhand ihrem Kiez gewidmet.
Dabei wird in der Tat ein guter neuköllntypischer Querschnitt geboten, der von doomiger Schwere abgesehen die meisten Facetten des Drones bzw. dronelastiger Musik abdeckt. Von zaghaftem Ambient, der erst mit der Zeit mehr Raum beansprucht (Tatsumi Ryusui), kosmischem Vibrato in Anlehnung an die elektronische Avantgarde der 70er (Tooth Decay) über dunkle, verhallte Loops (Sinister Sveta) bis zu geschliffenem Sounddesign (Window Magic) offenbart sich eine solide Bandbreite. Felix-Florian Tödtloff, der früher in der Black Metal-Band Sun Worship spielte, offenbart ein Händchen für harmonische Soundscapes mit allerlei melodischen Ornamenten, was im Beitrag seines Duos The Old Dream of Symmetry noch um einiges „organischer“ ausfällt – und in der Hinsicht an den von orientalischen Saiteninstrumenten geprägten Track von Wizard Ashdod anknüpft. DuChamp kombiniert hypnotische Dröhnung mit gut dosiertem Bimmeln und demonstriert in ihrem rituell anmutenden Stück, welch große Effekte man mit minimalen Mittel erreichen kann.
Fast aus dem Rahmen fällt der zunächst nur unterschwellig dröhnende Track von Delmore Fx, bei dem hektische elektronische Spielereien und Hochfrequentes das Bild dominieren. Erst mit der Zeit entsteht ein eher ambienter Eindruck. Bei AA..LL transformiert sich das Zirpen und Summen der Feldaufnahmen nach und nach in eine an Harmonium erinnernde Dröhnlandschaft. Gesprächsfetzen und Schritte machen irgendwann einem aufwühlenden Rhythmus Platz, der auch dieses Stück herausragen lässt. Gerade solche Arbeiten zeigen, dass Drone auch Jahre nach dem großen Hype noch variationsfähig ist und setzen in der ohnehin recht ausgewogenen Sammlung einen besonderen Akzent. Die Compilation ist neben dem obligatorischen Download neunzig mal auf Tape erhältlich.
Label: Full Body Massage Records