Für westliche Ohren mag die Vorstellung eines heiligen Entertainments zunächst widersprüchlich klingen, dafür verweist die im Untertitel enthaltene Beschreibung “Ceremonial Horse Trance Music from Priangan” schon etwas deutlicher auf den kulturellen Rahmen der hier auf LP zugänglich gemachten Musik. Pferdetrancemusik ist quasi der Score zu theatralischen Aufführungen, die in West-Java, in der Region um die Großstadt Bandung, im Rahmen von Hochzeiten, Beschneidungen und anderen Feiern des Lebenszyklus stattfinden und schon mal einen halben Tag dauern können.
Historischen Spekulationen zufolge sollen die Performances, bei denen in Kriegertracht gekleidete Männer mit aus Zweigen und Textilmaterialien gefertigten Pferdeattrappen choreografische Tänze aufführen, aus dem 17. Jahrhundert stammen, als die indonesischen Völker erstmals mit den Niederländern zusammenstießen und sich Widerstand formierte. Symbolik und Semantik, bei denen das Pferd wie in vielen anderen Kulturkontexten im diffusen Bezug zu kämpferischer Energie und Ausdauer steht, könnten aber bis in die animistische Stufe der indonesischen Religionsgeschichte zurückreichen und Hinduismus, Buddhismus und Islam vorausgegangen sein.
Die demografisch größte Religion auf Java ist heute der Islam, doch da dieser in vielen Teilen des Landes mit Aspekten einer synkretistischen Volksreligion verschmilzt und zudem viele mystische (verallgemeinert: sufistische) Züge trägt, konnten sich Praktiken wie die trancehaften Pferdetänze bis heute halten. Trancehaft sind diese Tänze nicht nur wegen ihrer Dauer, sondern auch wegen der primär auf Trommeln und ekstatischen Bläserparts basierenden Musik, die es in verschiedener lokaler Ausprägung gibt. Oft kommen Teilnehmer in einen trancehaften Zustand, der an Besessenheit erinnert, was im Volksglauben mit übermenschlichen, fakirartigen Fähigkeiten in Verbindung gebracht wird.
Die erste Seite enthält Aufnahmen der tranditionellen Formation Juarta Putra, die eine Kasenian Réak genannte lokale Variante dieser Musik spielen. Der Mitschnitt beginnt im Stil ethnografischer Aufnahmen mit Durchsagen und Stimmengewirr, eine verzerrt klingende Trommel eröffnet die Ouvertüre des Rituals. Blecherne und klingelnde Perkussion lassen an zufällig aufgegriffene Gegenstände denken, schrille Blasinstrumente, vermutlich eine regionale Entsprechung der Schalmei, spielen (improvisieren?) ornamentale Melodien mit orientalisch anmutender Aura oder feuern die extrem tanzbaren Rhythmen wie Fanfaren an, bis sich alles in hektischer Ekstatik auflöst. Während die erste Seite eine eher traditionelle Version des Réak wiedergibt, ist die von der zeitgenössischen Gruppe Putra Jaya Melati gespielte Version auf der zweite Seite, die einen zentralen Part der Aufführung dokumentiert, moderner ausgerichtet, wirkt klanglich bearbeiteter und fast etwas “psychedelisch”. Zwischen monotonen Takten und heiteren Bläsern, die man stellenweise für menschliche Stimmen halten könnte, meint man das Brummen von Motoren zu vernehmen, und generell wirkt die ganze Aufnahme weniger aufgeräumt.
Was beide Ausschnitte verbindet, ist ein ausgesprochen hypnotisierender Effekt, der sich dem groovigen Schlagwerk ebenso verdankt wie der sequenziell nicht sehr veränderlichen Ausrichtung der Musik. Und während in westlichen Kontexten, z.B. im katholischen Ritus, sakrale Handlungen zwar einen performativen Showcharakter haben, aber zugleich einen vom Profanen abgetrennten Raum beanspruchen, ist die hier dokumentierte Musik von einer volksnahen Ausgelassenheit, die das Sakrale durchaus mit umgangssprachlichen Vorstellungen von Entertainment unter einen Hut bringt. (U.S.)
Label: Discrepant