Dass es auf dem Gebiet Europas schon seit dem 17. Jahrhundert eine traditionell buddhistische Ethnie gibt, wissen wahrscheinlich nur wenige. Dass könnte eventuell daran liegen, dass viele beim Stichwort Europa nicht als erstes an Russland denken, in dessen südlicher Wolgaregion seit den Jahren um 1600 das Volk der Kalmücken ansässig ist. Als Abspaltung der westmongolischen Oiraten drangen sie in den damals turbulenten Zeiten westwärts, wo sie bis zum frühen 20. Jahrhundert ihre traditionelle Lebensweise als Hirtennomaden beibehielten. Eine ihrer langlebigsten Errungenschaften ist das von ihnen gezüchtete Kalmückenrind. Teile der Bevölkerung stehen bis heute dem Tibetischen Buddhismus nahe.
In der jungen Sovietunion kam es zu großangelegten Zwangskollektivierungen und -modernisierungen, was – wie fast immer, wenn wesentliche kulturelle und ökonomische Zwischenstufen übersprungen werden sollen – zu enormen Spannungen führte, zumal die Region sich nur bedingt, allenfalls in den fruchtbareren Flusstälern, für landwirtschaftliche Nutzung eignete. Im Zweiten Weltkrieg sorgte der Schulterschluss einzelner Kalmücken mit dem Kriegsgegner für Gerüchte, und bald wurde ein Großteil der Bevölkerungsgruppe für Jahrzehnte nach Sibiriern umgesiedelt.
2014 reiste Bulat Khalikov von Ored Recordings mit einem Team in die Region, um möglichst viele Informationen und Songbeispiele für die kalmückische Musiktradition zu finden und zu archivieren. In den Sängerinnen Tatiana Dordzhieva und Maria Beltsykova, deren Gedächtnis bis in die Vorkriegszeit zurückreicht, fanden sie einen enormen Fundus, und innerhalb nur eines Tages wurden viele Songs aufgenommen, die beide auswendig erinnerten und die thematisch und auch weltanschaulich einen umfangreichen Querschnitt boten: Hochzeitslieder und Tänze, buddhistische Gebete und Mantren, Lieder zu Ehren bestimmter Personen, kommunistische Lieder zu Ehren der Partei, aber auch Klagelieder über die Zeit der Deportation. Zwanzig davon sind nun auf der in Zusammenarbeit mit Sub Rosa erschienenen Sammlung “Kalmykian Archaic and Soviet Folk” dokumentiert.
Die relativ spontane Darbietung lässt die Aufnahmen älter wirken, wodurch eine Aura entsteht, die einige Jahrzehnte kalmückischer Geschichte noch ein bisschen mehr vergegenwärtigt. Viele der Songs sind a capella als Duett, Kanon oder Wechselgesang vorgetragen: Heitere Folkmelodien in traditionellen Hochzeitsliedern, schwermütige Hochtöner zu Alltagsthemen, kraftvolle Duette von beinahe aggressiver Aura. Das Mantra “Om maani padme hum” in volkstümlich-ungekünstelter Form, das in einen Lobgesang für im tibetischen Buddhismus verehrte Gottheiten übrgeht. Dem entgegengesetzt heroische Parteihymnen. Fast rituell monotone Lieder zum Neujahrsfest und sehnsüchtige Klagelieder, deren traumhaft entrückte Melodien durch die betagten Stimmen – der Shirley Collins-Effekt – noch an Charisma gewinnen.
Andere Songs werden mit Saiteninstrumenten begleitet, meist einem schnellen Strumming, das unreguliert bleibt und, wenn die Saiten nicht zu hektisch geschmettert werden, so hypnotisierend wirken kann, dass man die Songs auch mit Überlänge genießen würde. Viele dieser Songs sind Personen der Regionalgeschichte gewidmet, und einige Titel suggerieren, dass es ein inneres Referenzsystem zwischen manchen Songs und ihren Texten gibt. Die bisweilen in Sprechgesang kippenden Vocals kontrastieren dann mit dem ansonsten oft kehligen Gesang und erinnern an Auftritte wandernder Geschichtenerzähler, wie man sie an vielen Orten vom Kaukasus bis nach Zentralasien kennt und vor allem kannte. Ähnlich aufgebaut ist “Sivrin Dun”, ein Song über die Deportation nach Sibirien, bei dem der Gesang so unbekümmert daherkommt, dass man die gelassene Stimmung sofort mit Ironie assoziiert. Interessant ist, welche gegensätzlichen “Stimmen” in den einzelnen Songs zu finden sind, denn (pro-)sowietische Hymnen, traditionelle, religiöse Lieder und solche mit einer oppositionellen Implikation, die die Beschwernisse der Verbannung zum Thema haben, geben einen breit gefächerten Längs- und Querschnitt durch die Geschichte dieser Menschen.
Den beiden Sängerinnen und den Machern der daraus entstandenen Doppel-LP kann man nicht genug danken für die Aufbereitung und Archivierung dieser Kulturgüter einer oft übersehenen Tradition. Dass die Songs nicht nur als kurzweilige Einführung in diese fungieren, sondern auch einen ästhetischen Eigenwert besitzen, sollte aus meiner Beschreibung ausreichend hervorgegangen sein. (U.S.)
Label: Ored Recordings / Sub Rosa