ANNA LINARDOU: Heterotopia

Im Unterschied zur Utopie, dem Nichtort als Fantasieprodukt, existiert die Heterotopie tatsächlich. Sie ist der andere, alternative Ort, an dem Dinge nach anderen Regeln ablaufen als in der gewohnten Umgebung. Als Refugium oder Transitort bietet die Heterotopie die Möglichkeit, spezielle Erfahrungen zu machen oder ungewohnte Dinge auszuleben. Oft ist sie nur im übertragenden Sinne ein topografischer Ort, der ebenso gut für einen Rahmen, ein Umfeld oder auch einen Zustand des Bewusstseins stehen kann.

Dass die griechische Sängerin und Stimmkünstlerin Anna Linardou ihr Solodebüt „Heterotopia“ genannt hat, hat sicher viele Gründe, aber dass sie hier vieles auf ganz eigene Art umsetzt ist sicher ebenso relevant wie die Tatsache, das sie seit jeher an ganz unterschiedliche musikalischen Orten zuhaue ist. Linardou hat modernen Gesang studiert und in den letzten Jahren immer wieder sowohl als experimentelle Stimmperformerin als auch als traditionelle Sängerin von sich reden gemacht, interpretierte melodramatische Songs und Musiktheaterstücke des Komponisten Mikis Theodorakis, arbeitete mit lokalen Musikern und ist Teil von Bands wie Vault of Blossomed Ropes, dem Improv-Duo Liminal Vanguard und dem Kollektiv Lüüp, mit dem sie bereits mit Attila Csihar auf der Bühne stand.

In der Tat eröffnet der Titelsong „Heterotopia“ nicht nur das Album, sondern auch eine ganz eigene Parallelwelt, in der Linardou und ihr wichtigster Begleitmusiker Giorgos Varoutas mittels Mikro, Sample- und Looptechnik ein weiträumiges Mosaik aus zwitschernden, pfeifenden, flüsternen und manchmal auch in schönem Sopran gesungenen Stimmbeiträgen bauen. Hier fühlt man sich wie in einem riesigen Baum, in dem von oben, unten und allen Seiten ihre Stimme aus zahllosen unsichtbaren Mikrophonen dringt. Manchmal melodisch, immer harmonisch offenbart das virtuelle Vogelkonzert doch auch eine unterschwellige Hektik, die die Fragilität der Musik durchscheinen lässt.

Der sanft-gedoppelte Gesang in „Apopse sto spitaki mou“ könnte dazu nicht gegensätzlicher ausfallen, das gleiche gilt für die entspannten Dröhnflächen, die Glocken und die entrückte Flöte, die ihre Stimme begleiten. Doch auch dieser griechische Klassiker – ein Folksong aus den athamanischen Bergen im Süden der ionischen Provinz, wie die Liner Notes verraten – erfährt seine Wiederbelebung in dekonstruierter Form, bei der die Sängerin sich immer wieder in verschiedenen Gesangstechniken begleitet. Linardous Weg ist, alten Liedern aus unterschiedlichen Zeiten, Sprachen und Kulturen eine parallele Existenz zu geben. Das arabische Schlaflied „Yalla Tnam Rima“, das man in einer schönen Version von Fairuz kennt, behält seine Ernsthaftigkeit und sein orientalisches Flair, bekommt durch eine leicht derangierte Wusseligkeit aber eine ganz eigene Note. Eine fast aggressive Emotionalität durchzieht das kurdische „Ahmado“, an dem weitere Musiker aus dem Dunstkreis von Lüüp und den Black Lesbian Fishermen beteiligt sind. Das Stück beginnt fast a capella, doch bald kommen klassische Instrumente zu Wort, bis es am Ende in einer rumpelnden Soundlawine ausklingt. Das italienische „Alla Campagnola“, das Alan Lomax in den 50ern auf einer seiner Forschungsreisen fand und archivierte, behält trotz improvisierten Gerassels viel von seinem urig-ländlichen Charakter, und Linardou scheint hier die dudelsackartigen Bläser der klassischen Umsetzungen mit ihrer Stimme nachzuzeichnen.

Es ist schwer, die Künstlerin in eine Schublade zu packen. Hat man sich darauf geeinigt, sie vielleicht als eine Art missing link zwischen Ka Baird und Lisa Gerrard zu sehen oder einen Vergleich zu Künstlerinnen wie Alessandra Eramo oder Audrey Chen zu ziehen, überrascht sie mit dem verschrobenen Apallachian Song „Littel Sparrow“, der auf spröde Art das Leid der Liebe beklagt. Das aus dem 14. Jahrhundert stammende „Le Harpe de Melodie“ leitet über in das elektronisch getaktete „Rosa’s Tune“, das „Heterotopia“ mit santur-Begleitung und viel Melodrama ausklingen lässt.

Aufgrund Linardous vieler Kollaborationen und Auftritte ist „Heterotopia“ nur bedingt ein Debüt, und man merkt es der Musik an, denn die Vielgestaltigkeit wirkt nicht wie zusammengeschustert oder am Reisbrett entworfen – es scheint eher, als habe sie in eine Kiste gegriffen, aus der sie mit vollen Händen schöpfen kann, und wo sie all die Schätze aufbewahrt hat, die sie seit ihrer Kindheit auf den Wanderungen in ihrer persönlichen Heterotopie angesammelt hat, von denen sie auf ihrer Bandcamp-Seite erzählt. Und auch wenn sie nur einen einzigen Song in ihrer Muttersprache singt, ist diese Heterogenität auch etwas, das dem subtilen Palimpsest der griechischen Kultur und ihrem Ort zwischen Orient und Okzident, West- und Osteuropa entspricht. (U.S.)

Label: Underflow