In der nordischen Mythenwelt verkörpert die dunkle Riesin Nótt die aus ihrem Namen auch etymologisch hervorgegangene Nacht. Auf einem Pferd reitend zieht sie die Dunkelheit wie eine schwarze Decke über das Firmament und ist dabei doch eher eine schöpferische als eine endzeitliche Figur. Sie gilt als Mutter der Erde und des Tages, der von ihrem Sohn Dagr allegorisch verkörpert wird. Kein Wunder, dass sie in der göttlichen Familiensage der Eddas, ganz ähnlich ihrer griechischen Entsprechung Nyx, eine wichtige Rolle spielt. Als Enkelin des trickreichen Loki und Großmutter des Thor steht sie im Zentrum des Geschehens.
Wie könnte ein musikalisches Porträt dieser Figur klingen, das ganz ohne Edda-Zitate oder andere Texte auskommt? Im Unterschied zu Odins wilder Jagd ist die Dramatik der zyklisch wiederkehrenden (und in manchen Regionen monatelang den ganzen Tag verschluckenden) dunklen Stunden von subtiler Art – wie gemacht also für den Komponisten Duane Pitre, der u.a. ein Meister feinsinniger elektronischer Drones ist, und den Klarinettisten Gareth Davis, dessen vordergründig oft einfache Ornamentik viel mit Andeutungen arbeitet.
Die langsam über den Himmel gezogene Decke der Nacht kann einem schnell in den Sinn kommen bei den langsamen Dröhnwellen, die dunkel, körnig und doch ohne zu viel gewichtigen Ballast auf und ab ebbend irgendwann den ganzen Raum einnehmen. Oder besser fast den ganzen Raum, denn irgendwann dringen seltsame Pfeiftöne wie verirrte Strahlen der Mitternachtssonne immer näher an die Sinne, gehen über in kräftiges Rumoren, dann in von Obertönen flankierte Schrägheit. Erst nach einer Weile gibt sich Davis’ Bassklarinette in jaulenden Ornamenten zu erkennen, zeigt wie seinerzeit in den Zusammenarbeiten mit Merzbow und mit Aidan Baker ein leidenschaftliches, fast orientalisches Antlitz. In unruhigen Momenten erinnert ihr Klang gar an Stimmengewirr aus aufwühlenden Träumen und lässt nach ihrem Verstummen tiefschwarze Desolatheit zurück – und dabei die Decke der fast monotonen Drones noch monumentaler und undurchdringlicher wirken.
Neben der zirka halbstündigen Originalversion gibt es noch ein rund zehnminütiges „Edit“, das konzentrierter und vielleicht auch etwas intensiver wirkt, aber vielleicht ist das auch nur eine der Dunkelheit geschuldete Illusion. Beide Versionen geben jedoch einen passenden Score ab zum immer wiederkehrenden Treiben der Gigantin. (U.S.)
Label: Midira Records