Als kurz nach der Jahrtausendwende erstmals der Namen Ô Paradis auch außerhalb Kataloniens die Runde machte und ein paar Handvoll Leser kleiner Musikmagazine sich die Alben “Ensueños” und “Reinos” zulegten, konnte man kaum mutmaßen, wohin die Reise des am Fuße der Pyrenäen, etwa eine halbe Stunde nordöstlich von Barcelona lebenden Demian Recio gehen sollte, und v.a. wie lang sie sein würde. Jedem auch nur einigermaßen sensitiven Hörer war klar, dass in den schwermütigen, oft auf dem molligen Fundament breiter Orgelklänge basierenden Songs mit ihren originellen Rhythmen und dem freundlich melancholischen Gesang in Spanisch eine Menge Potential lag – der irgendwo im experimentellen Grenzland zwischen Pop, Folk und ritueller Elektronik heimische Stil des noch vergleichsweise einfach konzipierten Frühwerks verlangte geradezu nach einer Ausdifferenzierung in alle möglichen Richtungen, und man konnte sich gleich so manche Kollaborateure vorstellen, die in der Lage wären, dem ganzen einen weiteren Stempel aufzudrücken.
Natürlich wusste man aber auch, dass immer wieder vielversprechende Musiker kurz nach ihrem Debüt aus unterschiedlichen Gründen versanden. Sie brechen aus für Fans nicht nachvollziehbaren Gründen enttäuscht ab, vollziehen ungünstige Stilwechsel, werden zum Klischee ihrer selbst oder landen in den Schmollwinkeln beschränkter Subkulturen, wo man ihnen Genrebegriffe anklebt, die allenfall einen kleinen Teil ihrer Musik beschreiben und gerade die Aufgeschlossensten davon abhalten, der Sache ein Ohr zu leihen. Eine weitere Sackgasse solcher Nischen ist die häufig beobachtete Tatsache, dass die elitäreren (vulgo phlegmatischeren) Labels bisweilen ihr Vorhandensein an sich als einzig notwendige Promotion erachten, was viele gute Bands in der Obskurität versauern lässt.
Mittlerweile ist es zwanzig Jahre her, dass Recio Ô Paradis aus den Überresten seiner Vorgängerprojekte Los Sencillos und Dusminguet heraus gründete, und obwohl er sein Projekt zwischendrin immer mal erschöpft an den Nagel hängen wollte, blieb er doch stets kreativ bei der Sache und hat bis heute einen gewundenen Weg durch faszinierende musikalische Gegenden zurückgelegt. Auf bislang 25 solo oder in Kollaboration eingespielten Longplayern bekam Ô Paradis mal einen schwermütigen, mal einen leichtfüßigen Charakter, gab es sich mal rau, mal geschmeidig, zeigt eine folkige, dann wieder eine feinsinnig produzierte elektronische Seite, die wie eine Tour de Force durch sämtliche Leftfield-Regionen anmutete. Szeneklischees rund um die von ihm begeisterten Dark Folk- und Industrial-Communities vermied er ebenso wie Modeerscheinungen wie Weird Folk, Hauntology und Occult Psychedelia, auch wenn man einräumen muss, dass seine Musik an die besten Stellen alldessen andocken kann. All dies dankt ihm eine treue Fangemeinde, die vermutlich v.a. deshalb überschaubar ist, weil Demian die Arbeit mit kleinen unabhängigen DIY-Labels vorzieht, die noch dazu immer wieder wechseln. Auf die Titelseiten von Wire und Mojo hat er es bislang nicht geschafft, aber ich wette, dass ihn das nicht schert.
Das zwanzigste Bandjahr ist ein guter Anlass, mit einer Compilation das bisher erreichte zu feiern, und so erschien bei den Landsleuten von Nøvak Records gerade die neunzehn Tracks aus dreizehn Alben umfassende Sammlung “Verlo Pasar 1999-2019″. Dabei scheint es Recio um einen ausgewogenen Überblick zu gehen, der den unterschiedlichsten Ausprägungen seines Stils Rechung trägt, statt das besonders Eingängige hervorzuheben, das sich in uneingeschränkt radiotauglichen Songs wie “Medio Angel”, oder “El Fin del Mundo” gefunden hätte. Auf eine dekonstruierte, die gemeinhin kaschierten Ecken, Kanten und Brüche hervorhebende Art sind aber auch viele der hier vertretenen Songs Pop. Bei “El Impostor” vom 2018 erschienenen “Tierra Embrujada” ist es v.a. der leidenschaftliche Gesang, dessen Ohrwurmmelodie aus dem soundmäßig rauen Loopstück einen echten Aufwecker macht. Ähnlich rau begärdet sich das versteckt emotionale “Mejor Que la Muerte” vom 2008er “Pequeñas Canciones De Amor”, das dank seiner scheppernden Metallperkussion zum vielleicht tanzbarsten Song Recios wird. Neben elegant produzierten Songs vom “Maja Convoy”-Album und verquerer Tanzmusik aus dem geheimen Reich der Liebe wie “Se ti Pierdes” zählen auch akustische Songwriterperlen wie “Lombrices de Tierra” mit dem Geigenspiel Aloma Ruiz Boadas (u.a. Current 93) zu den eingängigeren Songs.
Wesentlich dunkler und experimenteller gestalten sich Tracks wie das geradezu niederdrückende “E Deseo” (ebenfalls vom leider viel zu unbekannten “Tierra Embrujada”), das dank Demians warmer Stimme dennoch nicht allzu negativ klingt, ähnlich dem vorsichtig voranpirschenden “Conversationes Con Uno Mismo”, dem spukhaften Downtempo-Song “Sexo A La Luna”, dem Drifterscore “Cuando te Alejas” vom 2012er “Personas” und nicht zuletzt der originellen spanischsprachigen Interpretation Current 93s “Calling For Vanished Faces I”. Sie erkennt man erst mit der Zeit, obwohl das Gitarrenspiel und die Melodie des Gesangs im Großen und Ganzen übernommen wurden.
Wie erwähnt prägten Gestmusiker und Kollaborateure das Werk Ô Paradis enorm, ohne Sergio Mendez a.k.a. Escama Serrada, Rosa Solé alias Circe, Leo von Niedowierzanie oder die genannte Violinistin würden einige Alben sicher ganz anders klingen. Besonders ins Auge fallen natürlich Gesangsbeiträge, bei denen andere Timbres mit den vielfältigen Ô Paradis-Sounds einen ganz eigenen Dialog eingehen, was m.E. niemals in die Hose ging. Die litauische Sängerin Daiana Dieva verleiht dem lynchesken “Paskutiné Diena” den Charme eines Abspanns am Morgen nach einer durchwachten Nacht. Mit anderen Musikern nahm Recia ganze kollaborative Alben auf, so mit der englischen Künstlerin Val Denham, die hier auf einem hellen Cabaret-Stück zu hören ist. Das Herzstück der Kollaborationen Recios sind fraglos die Arbeiten mit Novy Svet, woraus gleich zwei ganze Alben von leidenschaftlicher Düsternis entstanden sind. Statt Ohrwürmern wie “En Moloko” oder “Iberia Sumergida” oder dem jüngeren “Llega el Amor”, mit dem man den Showdown eines abgründigen Western untermalen könnte, ist hier das etwas unscheinbarere, aber letztlich abgründige Liebeslied “Siento Sensación” vertreten, bei die raue Stimme des Sängers, der heute meist unter dem Namen Jota auftaucht, mit Demian in Dialog tritt. Kommt die Liebe, folgt der Tod – so lautet der ins Deutsche übersetzte Titel eines Ô Paradis-Albums, der sich auch hier, wie so oft in den Songs von Recio und seinen Weggefährten als Motto anbietet.
“Verlo Pasar” gibt einen durchaus vilseitigen Einblick in diebisherige Karriere des faszinierenden Projektes und eignet sich als Wegweiser zu den recht unterschiedlichen Alben, in deren Kosmos man vielleicht etwas tiefer eintauchen mag. Zu all dem kann man nach den ersten zwanzig Jahren nur gratulieren. (U.S.)
Label: Nøvak