COLIN SELF: Orphans

Seit den 90ern, erstrecht aber im neuen Jahrtausend gehört Musik, die sich retro- (oder wie man heute lieber sagt: vintage-)artig auf eine frühere Popära bezieht, zum musikgeschichtlichen Alltag. Hier und da kommt es durchaus vor, dass eine Platte dabei alles offenkundig Projektive abstreift, und wenn man sie nicht gleich für ein betagtes Original hält, könnte man sie sich zumindest in der entsprechenden Epoche vorstellen und überlegt, wie das Publikum damals vielleicht darauf reagiert hätte. Bei der Musik des in Berlin lebenden Komponisten und Performance-Künstlers Colin Self dankt sich das nicht allein dem Einsatz eines geerbten Korg Polysynth, sondern auch seinem kraftvoll-androgynen Stimmeinsatz, mit dem er in den früen 80ern sicher Ultravox nicht ihre Chartplazierungen streitig gemacht hätte, dafür aber eine willkommene Alternative für alle gewesen wäe, die sich eine solche Musik noch eine Idee hintergründiger und auf’s Wesentliche reduzierter gewüscht hätten. Oft gezogene Vergleiche mit This Mortal Coil und den Cocteau Twins kann man ebenfalls nachvollziehen. Aber das ist längst nicht alles, was es zur neuen EP “Orphans” zu sagen gibt.

“Orphans” ist Teil eines umfangreicheren Kosmos, der Science Fiction-Oper “Elation”, auf der Self nach Ideen Ursula K. Le Guins die Geschichte der Umsiedlung einer Familie auf eine anderen Planeten erzählt, das Hauptaugenmerk allerdings eher auf die Psychologie der Figuren lenkt und dabei Themen wie Coming of age und Geschlechterfragen im Zeitalter digitaler Technologien anspricht. Bisheriger Höhepunkt neben den theatralischen Aufführungen des Stoffs ist das im letzten Jahr erschienene Album “Siblings”, das die Geschichte aus dem Blickwinkel der Kinder erzählt und zu dem “Orphans” im verqueren Verhältnis als Prequel und Fußnote zugleich steht.

Mit molllastigen und zugleich mit leichter Euphorie eingefärbten Synthieloops und hier und da einem feierlichen Paukenschlag zelebriert “Dispossessed” den Aufbruch in eine fremde Welt, die Entdeckerneugier, die sich im Text und in der schnellen Gangart abzeichnet wird von einem elektronischen Streicherensemble flankiert, und doch begleitet die Geschwister dabei das Lebensgefühl entwurzelter Waisenkinder: Angst vor dem Unbekannten, Spukhaften zeichnet sich ab und resultiert in einem Wunsch nach Anlehnung. Das wird im noch feinsinnigeren “Once More”, das als Bonus der digitalen Version von “Siblings” beilag, noch gesteigert: In einer Offenheit, die man so beinahe nur von einigen Stücken Marc Almonds her kennt, wird die eigene Fragilität und der Anlehnungswunsch eingestanden und zu einem widersinnig anmutenden Akt der Selbstbehauptung in einer fremden, gefahrvollen Welt, und keine Musik hätte besser gepasst als der hochtönende, fast barock anmutende Gesang, der ganz im Zentrum steht und nur von einer dünnen, taktlosen Synthiehülle ummäntelt wird.

Dazu stellt “Polyvagal”, dessen Titel auf eine Musik- und Stimmpraktik in Psychotherapien referiert, einen deutliche Bruch zumindest auf musikalicher Ebene dar, das mit etwas Fantasie an die Coil der 90er erinnerne Stück mit seinem repetitiven Takt und dem acidartigen Blubbern ist eher aufwühlend als melancholisch, Selfs gesamplete Stimme schwebt dazu im Raum. Wie ein braocker Countertenor schwebt sie auch durch “Survival”, ein feinsinniges Loopstück vom Album, das hier in einem Remix von Planningtorock vorliegt und “Orphans” mit fast heiteren Takten und dem Chorus “We, we can survive” ausklingen lässt. (J.G.)

Label: RVNG Intl.